Text: Selina Eckhardt | Sparring: Elisa Köhler | Korrektorat: Judith Begiebing | Stimme: Friederike Niermann |
- Effektives Lernen bedarf eines aktiven Beschäftigens (Active Engagement) mit der Materie, was zu einer tieferen Verarbeitung der Informationen führt
- Im Gegensatz zum aktiven Beschäftigen ist ein Discovery-based learning, bei dem ausschließlich auf Grundlage von eigener Exploration gelernt werden soll nicht zielführend und auch die Differenzierung zwischen verschiedenen Lernstilen scheint für die Lernleistung nicht von Bedeutung zu sein
- Grundlage für ein aktives Beschäftigen ist Neugierde als Manifestation der Motivation ein internes Modell der Welt zu bilden beziehungsweise anzupassen und steht in einem nicht-linearen Zusammenhang mit Überraschung
A. Ein passiver Organismus lernt wenig
"Efficient learning means refusing passivity, engaging, exploring, and actively generating hypotheses and testing them on the outside world.“ (Dehaene, 2020)
Die zweite Säule des Lernens, das aktive Beschäftigen, unterstreicht die Wichtigkeit des aktiv Eingebundenseins, um ein nachhaltiges Lernergebnis zu erzielen. Wie in den letzten Beiträgen bereits angesprochen, formt das Gehirn beim Lernen zuerst ein hypothetisches mentales Modell der Außenwelt, das dann wiederum auf die Umwelt projiziert wird. Die Vorhersage wird anschließend mit den Informationen verglichen, die über die verschiedenen Sinne im Gehirn ankommen. Eine aufmerksame Haltung ist die Grundvoraussetzung für diesen Algorithmus. Außerdem ist Motivation essenziell: Man lernt nur, wenn es ein klares Ziel und Commitment zur Erreichung dessen gibt. Das aktiv sein bezieht sich nicht auf eine körperliche Aktivität, also das Lernen einer mathematischen Formel wird nicht zwangsläufig leichter durch die gleichzeitige Bewegung auf einem Heimtrainer. Es geht vielmehr um das aktive Verfolgen des jeweiligen Inputs, statt eines passiven Berieseln-Lassens. Auch hinsichtlich der Therapie lohnen sich deswegen aktive gegenüber passiven Therapieansätzen (siehe etwa: Lederman, 2015).
A.1 Tiefere Verarbeitung = Besseres Lernen?
In einem klassischen Experiment aus der kognitiven Psychologie von Craik and Tulving (1975) erhielten drei verschiedene Gruppen unterschiedliche Aufgaben zu einer Liste von Wörtern. Die Aufgabe der ersten Gruppe bestand darin zu bestimmen, ob die vorliegenden Wörter in Groß- oder Kleinbuchstaben geschrieben wurden, die zweite Gruppe sollte beurteilen, ob sich die Wörter auf “Stuhl” reimten und die dritte Gruppe wurde aufgefordert zu prüfen, ob es sich bei den Wörtern um Tiernamen handelt oder nicht. Danach wurden die Teilnehmer einem Gedächtnistest unterzogen, wobei sich ergab, dass sich die dritte Gruppe am besten an die Wörter erinnerte (an 75% der Wörter). Im Vergleich zu den anderen beiden Gruppen (1.:33% und 2.:52%), die sich lediglich oberflächlich auf Buchstabenlevel mit den sensorischen Aspekten der Wörter beschäftigten, verarbeitete die letzte Gruppe die Wörter tiefgründiger auf einem semantischen Level. Schwierigere Lernbedingungen, die eine höhere kognitive Anstrengung bedeuten, können oftmals zu einer verbesserten Retention führen. Das kann mittlerweile auch Bildgebung zeigen.

Auch in anderen Lernfeldern, wie der Physik, kommt man zu ähnlichen Ergebnissen. Beispielsweise erhielt in einer Studie eine Gruppe einen Fahrradreifen zum Experimentieren und die andere eine zehnminütige, verbale Erklärung über Drehimpulse und Drehmoment. Die erste Gruppe lernte nachweislich besser (Kontra et al., 2012). Auch ein groß angelegtes Review konnte zeigen, dass traditioneller Frontalunterricht, mit passiven Schülerinnen im Vergleich zu Lehrmethoden, die aktives Beschäftigen in den Vordergrund stellen, ineffektiv zu sein scheint (Freeman et al. 2014). Dabei scheinen verschiedene Herangehensweisen wie praktische Aktivitäten, Diskussionen, Gruppenarbeit oder das Stellen schwieriger Fragen effektiv zu sein, jedoch keine Methode grundsätzlich einer anderen überlegen.
A.2 Mythen in der Pädagogik
Discovery-based learning: Kinder können sich selbst unterrichten
Auch wenn es unabdingbar für die Motivation Lernender ist, aktiv und eingebunden zu sein, sollten sie beim Lernen nicht zwangsläufig alleine gelassen werden, um alles selbst entdecken zu können. Viele Experimente konnten zeigen, dass Lernende große Schwierigkeiten zu haben scheinen, die abstrakten Regeln einer Domäne selbstständig zu erschließen und in entsprechenden Situationen wenig oder gar nichts lernen (z.B. Kirschner & van Merriënboer, 2013). Eigentlich sollte es auch nicht überraschend sein, dass es unmöglich ist, in einigen wenigen Stunden Dinge herauszufinden, für die die Menschheit Jahrhunderte gebraucht hat. Explizite pädagogische Führung kann somit als essenziell für das Lernen angesehen werden. Es ist die Aufgabe Lehrender ein strukturiertes Lernumfeld zu schaffen, das die Lernenden so schnell wie möglich zur „Spitze des Wissens“ bringt. Hierzu sollte eine klare und präzise Lernabfolge bereitgestellt werden, die bei den Grundlagen beginnt. Gleichzeitig ist das regelmäßige Einschätzen der Fähigkeiten der Lernenden und eine entsprechende Anpassung der Inhalte daran wichtig, sowie das Zulassen der Schaffung einer eigenen „Pyramide der Bedeutung“ der Lernenden.
Lernstile: Jede Person hat einen eigenen, bevorzugten Lernstil (visuell, auditiv, taktil…)
Die Lehre an den bevorzugten Lernstil von Lernenden anzupassen, bringt aktueller Forschung zufolge keinen Vorteil mit sich, denn Kinder und auch Erwachsene scheinen sich nicht radikal in ihrer Präferenz der Lernmodalitäten zu unterscheiden (Pashler et al., 2008). Funktioniert eine Lehrmethode gut, trifft das in der Regel auf eine überlegene Mehrheit der Lernenden, statt nur auf bestimmte Subgruppen, zu. Beispielsweise fällt das Erinnern an ein Bild in der Regel leichter als an ein geschriebenes Wort und kann bei Kombination der beiden Modalitäten weiter verbessert werden. Variabilität besteht hingegen was die Schnelligkeit, Leichtigkeit und Motivation beim Lernen angeht und worauf sich auch das individuell Eingehen lohnt.

B. Die Neugierde wecken
Eine der Grundlagen für aktives Beschäftigen ist Neugierde, welche auch als das Verlangen zu Lernen oder der Durst nach Wissen bezeichnet werden kann. Wird die Neugierde einer Klientin geweckt, kommt es zu einer Mobilisierung von Aufmerksamkeit und Erklärungen werden selbstmotiviert gesucht. Die Aufgabe der Trainerin oder Therapeutin liegt dann lediglich in der Begleitung und Führung. Genau dieses Prinzip macht sich beispielsweise Motivational Interviewing zunutze.
“Curiosity is the determination that pushes animals out of their comfort zones in order to acquire knowledge. In an uncertain world, the value of information is high and must ultimately be paid in Darwin’s own currency: survival.“ (Dehaene, 2020)
Dem Zitat nach ist Neugierde eine Kraft, die zur Exploration anregt, mit dem Ziel neue Informationen zum Überleben zu akquirieren. Neurobiologische Studien zeigen, dass neue Informationen das Dopamin-System aktivieren (etwa Bromberg-Martin, E. S., & Hikosaka, O., 2009). Es ist das gleiche System, das als Antwort auf Essen, Drogen und Sex feuert oder eben beim Erkunden einer neuen Stadt oder dem endlosen Scrollen durch Instagram. Das Ausmaß der Neugierde korreliert mit der im MRT sichtbaren Aktivität des Dopamin-Systems aber auch, wenn es um rein intellektuelle Sachverhalte geht. Gruber et al., 2014 stellten zum Nachweis dieses Sachverhaltes Personen, die in einem MRT lagen, verschiedene Trivial Pursuit Fragen. Bevor sie ihnen die Antwort zur jeweiligen Frage mitteilten, hielten sie fest, wie wissbegierig sich die Versuchspersonen einschätzten, die korrekte Antwort zu erfahren. Dabei korrelierte das Ausmaß der berichteten Neugierde mit dem Aufleuchten bestimmter Regionen im MRT, die als dopaminerge Schaltkreise bekannt sind. Diese „Neugierde-Signale“ im Gehirn können vorhersagen wie viel in einer Situation gelernt wird. Je neugieriger jemand ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass die Information hängen bleibt.
B.1 Die Quelle der Motivation
Laut den Psychologen William James, Jean Piaget und Donald Hebb ist Neugierde die direkte Manifestation kindlicher Motivation die Welt zu verstehen und ein Modell von ihr zu erstellen. Sie taucht immer dann auf, wenn im Gehirn eine Lücke zwischen etwas bereits Bekanntem und einer neuen interessanten Information besteht. Eine Wissenslücke ist also ein potenzielles Lernareal. Diese Theorie erklärt auch, warum Neugierde dennoch nicht direkt mit der Neuheit oder dem Grad der Überraschung zusammenhängen muss.

Bild: Die “Inverted-U Curve of Curiosity” (https://engineering.velocityapp.com/experiencing-mystery-pt1-a70fd6aae2fd)
Die Kurve zeigt, dass das Interesse an einer neuen Sache nach der eingehenden Beschäftigung damit irgendwnn nachlässt. Genauso erklärt sie, warum ein Lernareal, das anfangs attraktiv erschien, verlassen wird, wenn sich im Laufe des Lernens herausstellt, dass es noch zu schwierig ist. Das Gehirn evaluiert die Geschwindigkeit des Lernens und schaltet die Neugierde ab, wenn keine ausreichend schnelle Progression stattfindet. Zwischen der Langweile von zu einfachen- und dem Abstoßen von zu schwierigen Dingen, dirigiert die Neugierde also in Richtung neuer und erreichbarer Lernfelder.
B.2 Dinge, die die Neugierde dämpfen und dazu passende Praxistipps:
Die zu den Bedürfnissen passende kognitive Stimulation fehlt: Der Lerninhalt ist entweder zu leicht oder zu schwer.
- Das Anliegen und Vorwissen der Patientin oder Klientin vorab zu klären und im Verlauf auch immer wieder nachzuhaken ist hierfür essenziell (siehe hierzu auch Motivational Interviewing: Resist the righting reflex). Besteht überhaupt eine Wissenslücke oder ist der Person eigentlich klar was zu tun ist und es hapert an der Umsetzung? Dann erübrigt sich eine ausführliche Edukation über den Nutzen von mehr Bewegung im Alltag und es kann direkt gemeinsam über passende Strategien nachgedacht werden.
Das Bestrafen von Neugierde: Aktives Einbringen oder Mitdenken werden systematisch unterbunden oder sogar gemaßregelt.
- Therapeutinnen oder Trainerinnen sind zwar Expertinnen auf ihrem Gebiet, kennen sich jedoch nicht mit der konkreten Lebensrealität der Personen aus, die ihre Hilfe oder ihren Rat suchen. Auch deshalb ist das aktive Zuhören ohne Unterbrechungen und Stellen von offenen Fragen unabdingbar. Hat die Person schon wirksame Strategien, um mit ihren Schmerzen umzugehen? Dann kann darauf aufgebaut werden statt, etwas komplett Neues vorzuschlagen, selbst wenn es nicht die perfekte (evidenzbasierte) Lösung zu sein scheint. Veränderung ist ein Prozess und funktioniert wahrscheinlich nur nachhaltig aus interner Motivation heraus.
Die soziale Weitergabe von Wissen: Entsteht der Eindruck einer Wissensüberlegenheit anderer, kann dies dazu führen, dass ausschließlich auf deren Wissen zurückgegriffen wird und keine eigenen Annahmen zu verschiedenen Sachverhalten aufgestellt werden.
- Trainerinnen und Therapeutinnen neigen dazu, auf Grund ihrer Fachkompetenz Lösungen vorwegzunehmen. Funktioniert beispielsweise eine Übung im Mannschaftstraining nicht, lohnt es sich, die Mannschaft mit in den Reflexionsprozess einzubinden. Was sorgt dafür, dass der Ball immer wieder verloren geht? Mit welchen Änderungen könnte es besser laufen? Wie lässt sich die Übung spaßiger gestalten? Die Spielerinnen aktiv mit in solche Denkprozesse zu integrieren, nimmt der Trainerin nicht ihre Expertise weg, sorgt aber dafür, dass Kompetenzen der Sportlerinnen wie Reflexionsfähigkeit oder Problemlösung gefördert werden. Zusätzlich fordert dies von der Trainerin sogar eine ganz andere Expertise, die über eine reine Wissensvermittlung hinausgeht und auch für sie neue Lernfelder eröffnet.
Das aktive Einbringen und Beschäftigen der Sportlerin oder Patientin ist für einen Trainings- oder Rehabilitationserfolg essenziell. Dieses beinhaltet nicht nur eine offene Kommunikation, bei der auf individuelle Bedürfnisse und eigene Ideen der Sportlerin eingegangen wird, sondern kann auch im aktiven Training umgesetzt werden. Bewegungsaufgaben, die an die Fähigkeiten der Sportlerin oder Patientin angepasst werden, können die Neugierde fördern. Dabei kann das aktive Suchen nach Bewegungslösungen nicht nur ein verbessertes Lernen bewirken, sondern auch die Ausbildung einer förderlichen Bewegungsvariabilität begünstigen.
Literatur
- Bromberg-Martin, E. S., & Hikosaka, O. (2009). Midbrain dopamine neurons signal preference for advance information about upcoming rewards. https://doi.org/10.1016/j.neuron.2009.06.009
- Craik, F. I., & Tulving, E. (1975). Depth of processing and the retention of words in episodic memory. https://psycnet.apa.org/doi/10.1037/0096-3445.104.3.268
- Freeman, S., Eddy, S. L., McDonough, M., Smith, M. K., Okoroafor, N., Jordt, H., & Wenderoth, M. P. (2014). Active learning increases student performance in science, engineering, and mathematics. https://doi.org/10.1073/pnas.1319030111
- Gruber, M. J., Gelman, B. D., & Ranganath, C. (2014). States of curiosity modulate hippocampus-dependent learning via the dopaminergic circuit. https://doi.org/10.1016/j.neuron.2014.08.060
- Kidd, C., Piantadosi, S. T., & Aslin, R. N. (2012). The Goldilocks effect: Human infants allocate attention to visual sequences that are neither too simple nor too complex. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0036399
- Kirschner, P. A., & van Merriënboer, J. J. (2013). Do learners really know best? Urban legends in education. https://doi.org/10.1080/00461520.2013.804395
- Kontra, C., Goldin-Meadow, S., & Beilock, S. L. (2012). Embodied learning across the life span. https://doi.org/10.1111/j.1756-8765.2012.01221.x
- Lederman, E. (2015). A process approach in manual and physical therapies: beyond the structural model. https://www.researchgate.net/profile/Eyal-Lederman/publication/288033233_A_process_approach_in_manual_and_physical_therapies_beyond_the_structural_model/links/593525d70f7e9beee7d17bbb/A-process-approach-in-manual-and-physical-therapies-beyond-the-structural-model.pdf
- Pashler, H., McDaniel, M., Rohrer, D., & Bjork, R. (2008). Learning styles: Concepts and evidence. https://doi.org/10.1111/j.1539-6053.2009.01038.x