Text: Selina Eckhardt | Sparring: Elisa Köhler | Korrektorat: Judith Begiebing | Stimme: Friederike Niermann |

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Im Sprint

- Die vier Säulen des Lernens nach Dehaene sind Aufmerksamkeit (Attention), Aktives Beschäftigen (Active Engagement), Fehler Rückmeldung (Error Feedback) und Festigung (Consolidation)

- Aufmerksamkeit bezieht sich auf alle Mechanismen, durch die Information ausgewählt, verstärkt, gelenkt sowie deren Verarbeitung vertieft wird

- Nach Michael Posner können drei Aufmerksamkeitssysteme differenziert werden: Alarmieren, Orientieren und exekutive Aufmerksamkeit

A. Die vier Säulen des Lernens

Die Existenz der im letzten Artikel angesprochenen Neuroplastizität alleine kann die Besonderheit der Lernfähigkeiten der menschlichen Spezies nicht erklären. Während der Evolution entstanden insgesamt vier Hauptfunktionen, welche die Geschwindigkeit mit der Menschen Informationen aus ihrer Umwelt extrahieren, maximierten. Dehaene nennt sie die 4 Säulen des Lernens. Jede einzelne Säule spielt eine essenzielle Rolle für die Stabilität mentaler Konstruktionen. Die Säulen sind:

  • Aufmerksamkeit (Attention)
  • Aktives Beschäftigen (Active Engagement)
  • Fehler Rückmeldung (Error Feedback)
  • Festigung (Consolidation)

Natürlich existieren eine Reihe von Herangehensweisen und Systematiken um das Thema Lernen, wie beispielsweise auch Beitrag 1-3 zeigen. Ein praxisorientierter Blickwinkel wie der von Dehaene kann für die aktive Förderung des Lernens vorteilhaft sein und wurde deshalb für die folgenden Beiträge herangezogen. Das zu Nutze machen der vier genannten Funktionen in der Therapie oder im Training, kann die Geschwindigkeit und die Effizienz beim Lernen neuer Inhalte erhöhen.

B. Aufmerksamkeit (Attention)

„In cognitive science, ‚attention‘ refers to all the mechanisms by which the brain selects information, amplifies it, channels it, and deepens its processing.“ (Dehaene, 2020)

Bei der ersten wichtigen Säule des Lernens handelt es sich um Aufmerksamkeit. Sie umfasst laut der obigen Definition alle Mechanismen, die Informationen sammeln, verstärken, lenken oder deren Verarbeitung vertiefen. Das Gehirn fungiert bei dieser Funktion wie ein Filter und löst dadurch das allgegenwärtige Problem der Informationssättigung. Nur einige wenige der in der Umwelt verfügbaren Informationen werden bewusst wahrgenommen.

Das Setzen eines bewussten Fokus sowie die Vermeidung von Ablenkung ist also wichtig und kann erlernt werden.  Der amerikanische Psychologe Michael Posner unterscheidet mindestens drei Hauptsysteme der Aufmerksamkeit:

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Theorie des Lernens 6: 4 Säulen des Lernens von Dehaene - Aufmerksamkeit (Attention)
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  1. Alarmieren: Das System zeigt an, wann es sich lohnt, aufmerksam zu sein und adaptiert das Vigilanzlevel.
  2. Orientieren: Das System gibt ein Signal, auf was die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll, und verstärkt sie für jedes Objekt von Interesse.
  3. Exekutive Aufmerksamkeit: Das System entscheidet, wie die durch Aufmerksamkeit gewonnene Information verarbeitet wird. Es wählt die Prozesse aus, die relevant für den entsprechenden Task sind und kontrolliert deren Exekution.

Alle modulieren die Hirnaktivität und fazilitieren so das Lernen. Sie können jedoch auch in die falsche Richtung führen.

B.1 Alarmbereitschaft

Das erste Aufmerksamkeitssystem gibt Auskunft darüber, wann Achtsamkeit erforderlich sein könnte, indem es Warnsignale versendet, die, wenn nötig, den gesamten Körper mobilisieren. Beispielsweise werden durch das Hören eines Geräuschs auf dem nächtlichen Heimweg die Sinne direkt geschärft. Eine Reihe an subkortikalen Nuclei verstärkt sofort die Wachheit und Vigilanz des Kortex. Neuromodulatoren wie Serotonin, Acetylcholin und Dopamin werden ausgeschüttet. In einem solchen Moment ist die Plastizität durch die entstandene kortikale Aktivität besonders hoch, das heißt im Gehirn herrschen optimale Bedingungen zum Lernen. Wie das Beispiel bereits zeigt, kommt dieser Mechanismus der erhöhten Plastizität besonders in Gefahrensituationen zum Tragen und spielt deshalb vor allem eine Rolle bei erlebten Traumata oder in Augenblicken mit starken Emotionen. Dies scheint allerdings nicht der einzige Weg zu sein, den Mechanismus zu aktivieren. Es gibt etwa Videospiele, die das Lernen in dieser Art und Weise modulieren können. In einem Experiment konnte gezeigt werden, dass das Spielen eines sehr gewalttätigen Spiels diese Effekte am ehesten hervorbringen konnte (Cardoso-Leite & Bavelier, 2014).

Andere Wege die Aufmerksamkeit zu erhöhen, können aber zum Beispiel auch fesselnde Bücher oder Filme sein, die Menschen in realitätsnahe fiktionale Situationen versetzen und ähnlich starke Alarmsignale wie beim tatsächlichen Erleben auslösen, die das Gehirn stimulieren. Auch die Wettkampfsituation im Sport kann im Vergleich zur reinen Trainingssituation einen ähnlich alarmierenden Effekt haben und dafür sorgen, dass Lernen in besonders hohem Maße stattfindet.

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Wie lässt sich das Aufmerksamkeitssystem in der Praxis nutzen?
Werden in der Therapie nozebische Floskeln wie beispielsweise „durch die Arthrose reibt bei Ihnen Knochen auf Knochen“ verwendet, kann das Angst machen und in Alarmbereitschaft versetzen. Bei Patientinnen kann vor allem dieser Satz hängenbleiben, anstatt die geschafften schmerzfreien Wiederholungen an der Beinpresse. Ein Learning kann also sein, die eigene Sprache zu überdenken. Nicht nur angstmachende, sondern ebenso besonders positive Emotionen können zu einem größeren Lernerfolg führen. Ist die Atmosphäre in der Behandlung besonders angenehm, nimmt sich die Therapeutin Zeit und geht auf Sorgen und Ängste ein, kann das gleiche System positiv genutzt werden (siehe dazu auch weiterführender Inhalt).

B.2 Orientierung

Das zweite Aufmerksamkeitssystem im Gehirn bestimmt, auf was die Aufmerksamkeit gelenkt wird. Metaphorisch kann es mit einem Scheinwerferlicht auf die Außenwelt verglichen werden. Durch die Orientierung werden aus den Millionen von Stimuli diejenigen ausgewählt, welche mentale Ressourcen verdienen. Diese sind zum Beispiel besonders dringend, gefährlich, reizvoll oder relevant für gegenwärtige Ziele.

Eine solche selektive Wahrnehmung gibt es in allen sensorischen Domänen. Es kann etwa das Lauschen eines bestimmten Gespräches im lauten Trainingsraum sein oder das Beobachten des Tennisballs beim Zusehen eines Spiels, statt des Betrachtens der Spieler. In den verschiedenen Fällen verstärkt die Orientierung der Aufmerksamkeit, was in deren Scheinwerferlicht liegt. Die Neuronen, die für diese bestimmte Informationen codieren, feuern nun häufiger, während andere Neuronen weniger feuern. Dabei werden die nun aktiveren Neuronen gleichzeitig sensitiver für Stimuli, die als relevant angesehen werden, also solche die im Fokus der Scheinwerfer liegen. Dadurch nimmt ihr Einfluss auf den Rest des Gehirns zu. Aufmerksamkeit fungiert also als Verstärker und selektiver Filter. Dinge, auf die das Scheinwerferlicht gerichtet wird, gewinnen in diesem Moment den Kampf um die Orientierung.

Einer Sache besondere Aufmerksamkeit zu schenken, führt unweigerlich auch dazu, etwas anderes zu ignorieren. Dieser Mechanismus wird „biased competition“ genannt. In jedem einzelnen Moment befinden sich verschiedene sensorische Inputs in einem Wettbewerb um die Ressourcen des Gehirns. Aufmerksamkeit beeinflusst diesen Wettkampf, indem sie die Repräsentation des ausgewählten Objekts stärkt, während sie andere unterdrückt. Dabei besteht das Risiko blind für bestimmte Dinge zu werden, wie beispielsweise beim Selective Attention Test nach Simmons & Daniel deutlich wird.

Lehrende neigen dazu den Umstand dieses Experiments zu vergessen. Jeder Mensch hat einen eigenen Wahrnehmungsprozess, der teilweise stark voneinander abweichen kann. Die Aufmerksamkeit ist begrenzt und welche Informationen aufgenommen und verarbeitet werden, ist nicht immer vorherzusagen. Es ist zum Beispiel deshalb so wichtig am Ende der Therapie oder eines Trainings mit Patientinnen oder Klientinnen darüber zu sprechen, was sie verstanden haben und gegebenenfalls Missverständnisse oder Lücken zu identifizieren, die durch unterschiedliche Wahrnehmung entstanden sind.

In einem Experiment von Yoncheva et al. (2010) wurde untersucht, ob es zum Lesen lernen sinnvoller ist, die Aufmerksamkeit auf die Form eines gesamten Wortes oder auf einzelne Buchstaben zu lenken. Dafür entwarfen sie ein unübliches Orthographiesystem, das aus verschiedenen Bögen bestand. Eine der Gruppen sollte die Aufmerksamkeit auf die Kurven als ganzes lenken, da -ähnlich zu chinesischen Zeichen- ein Schriftzug quasi für ein ganzes Wort stehe. Der anderen Gruppe wurde hingegen mitgeteilt, dass die Kurven aus übereinanderliegenden Buchstaben bestünden und sie besser lernen, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf die einzelnen Buchstaben lenken. Zuerst wurden beiden Gruppen 16 neue Wörter beigebracht und ihre Hirnaktivität gemessen, während sie versuchten diese neuen Wörter zu lesen.  Beide Gruppen schafften es mit den vorgegebenen, unterschiedlichen Herangehensweisen die ersten 16 Wörter zu behalten. Die unterschiedliche Aufmerksamkeitsausrichtung veränderte jedoch deren Fähigkeit 16 neue Wörter zu entziffern. Die Personen, die ihre Aufmerksamkeit auf einzelne Buchstaben richten sollten, fanden Zusammenhänge zwischen Buchstaben und deren Klang und konnten auch 79% der neuen Wörter lesen. Die Aufmerksamkeit auf das gesamte Wort zu legen, verhinderte stattdessen die Kapazität zu Generalisieren, um neue Wörter lesen zu lernen. Diese Unterschiede waren nicht nur im Outcome, sondern auch im MRT sichtbar. Das heißt, je nachdem wohin Aufmerksamkeit gerichtet wird, verändert sich die Aktivität im Gehirn. Die Studienergebnisse zeigen auf, wie wichtig es zu sein scheint, die Aufmerksamkeit als Lehrende auf die richtigen Dinge zu lenken. Im Sport könnten das beispielsweise einzelne Bewegungskomponenten sein, welche die Angriffsbewegung im Volleyball ergeben (für interessierte nicht-Volleyballerinnen Link unter weiterführender Inhalt).

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Wie lässt sich das Aufmerksamkeitssystem in der Praxis nutzen?
Die Aufmerksamkeit kann bewusst auf wichtige Informationen gelenkt werden, wie etwa in der Wettkampfsituation weg von den Zuschauern, auf den Ball oder Gegenspieler. Genauso kann das Lenken des Aufmerksamkeitssystems aber auch beispielsweise für Rückenschmerzpatientinnen sinnvoll sein, indem sie die Aufmerksamkeit bewusst auf etwas anderes als den Körper lenken. Statt sich also bei einem Spaziergang auf den Rücken und jede kleine Bewegung zu fokussieren, kann Ihnen vorgeschlagen werden sich lieber bewusst auf ein interessantes Gespräch oder die Natur in der Umgebung zu richten.

B.3 Exekutive Kontrolle

Das dritte Aufmerksamkeitssystem bestimmt, wie eine bewusst wahrgenommene Information verarbeitet wird. Das exekutive Kontrollsystem ermöglicht, dass eine Aktionsrichtung ausgesucht und diese beibehalten wird. Durch die Orientierung, Leitung und Beherrschung mentaler Prozesse kann es etwa als Schaltzentrale des Gehirns verstanden werden: es orientiert, leitet und beherrscht mentale Prozesse. Auch das exekutive Kontrollsystem gehört zum Aufmerksamkeitssystem, da es wie die anderen beiden aus vielen Möglichkeiten - in diesem Fall aber aus den verfügbaren mentalen Vorgängen und nicht den ankommenden Stimuli - auswählen muss. Die räumliche Aufmerksamkeit lenkt das Scheinwerferlicht beispielsweise auf die gezeigte Ausführung des Angriffsschlags beim Volleyball. Die exekutive Aufmerksamkeit führt das Licht dann Schritt für Schritt durch den Prozess (Ball anvisieren, Orientierungsschritt mit links, Stemmschritt rechts, linker Fuß dazu, Arme nach hinten und so weiter…).

Es existiert eine enge Verbindung zwischen der exekutiven Kontrolle und dem sogenannten Arbeitsspeicher (working memory). Einem mentalen Algorithmus zu folgen und dessen Exekution zu kontrollieren, bedeutet auch konstant alle Elemente dieses Vorgangs präsent zu haben: zwischenzeitliche Ergebnisse, bereits durchgeführte Schritte, noch fehlende Operationen etc. Mentale Vorgänge sind auf diesem Level relativ langsam und fortlaufend, Informationen werden nacheinander verarbeitet. Aus diesem Grund ist es auch nicht möglich zwei Operationen gleichzeitig durchzuführen. An dieser Stelle kann also mit einem weitverbreiteten Irrtum aufgeräumt werden: Menschen sind nicht wirklich multitaskingfähig. Es kann lediglich der Eindruck entstehen, dass zwei oder mehrere Dinge gleichzeitig durchgeführt werden können, weil die Introspektion fehlt: In der Regel werden die Tätigkeiten in einem solchen Fall nacheinander durchgeführt und die zweite dauert länger, weil Kapazitäten durch die erste fehlen.

Mehrere Tätigkeiten gleichzeitig auszuführen ist lediglich mit Hilfe von Automation möglich. Schafft man es beispielsweise den Orientierungs- und Stemmschritt beim Volleyball so routinemäßig auszuführen, dass es keine Aufmerksamkeit fordert, sind mentale Kapazitäten frei, um den Ball anzuvisieren und die Ausholbewegung mit den Armen auszuführen. Dies erfordert jedoch intensives Training der immer gleichen Sache, bis sie automatisch ablaufen kann.

Die exekutive Aufmerksamkeit wird landläufig als „Konzentration“ oder „Selbstkontrolle“ bezeichnet. Sie ist nicht direkt im Kindesalter verfügbar, sondern findet durch die progressive Reifung des präfrontalen Kortex statt, die bis zu 20 Jahre dauert. Auch danach bleibt dieser Schaltkreis plastisch und kann durch Training und Schulung verbessert werden. Dabei scheint vor allem eine Diversifikation der Lernerfahrungen, am besten von Kindesbeinen an, sinnvoll zu sein.

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Wie lässt sich das Aufmerksamkeitssystem in der Praxis nutzen?
Therapeutinnen und Trainerinnen setzen als Experten für Bewegung und Bewegungsabläufe eventuell manchmal Wissen voraus, dass Klientinnen nicht haben. Um sicherzustellen, dass sie einen klaren Ablauf der entsprechenden Aufgabe im Kopf haben, kann dieser beispielsweise gemeinsam durchgesprochen und gegebenenfalls in einzelnen Schritten so lange in Isolation geübt werden, bis er automatisiert abläuft.
Aufs Feld

Da die menschliche Wahrnehmungskapazität stark beschränkt ist, dient die Aufmerksamkeit der Auswahl relevanter Informationen. Für optimales und schnelles Lernen spielt die Aufmerksamkeit, welche als Verstärker der fokussierten Information fungiert, eine essenzielle Rolle. Das bewusste Lenken der Aufmerksamkeit kann in Training und Therapie genutzt werden, um die Verarbeitung der entsprechenden Information zu erleichtern. So können beispielsweise Instruktionen zur Fokussierung auf den Schlagarm der Gegnerin im Tennis gegeben werden. Allerdings muss bedacht werden, dass die starke Fokussierung auf eine einzige Informationsquelle auch die Gefahr der Aufmerksamkeitsblindheit beinhaltet, was sich in Spielsportarten zum Beispiel durch das Übersehen von freien Mitspielerinnen äußern kann.

Literatur

  1. Cardoso-Leite, P., & Bavelier, D. (2014). Video game play, attention, and learning: how to shape the development of attention and influence learning? doi: 10.1097/WCO.0000000000000077
  2. Dehaene, S. (2020). How we learn: Why brains learn better than any machine... for now. ISBN 9780525559887.
  3. Petersen, S. E., & Posner, M. I. (2012). The attention system of the human brain: 20 years after. Annual review of neuroscience 10.1146/annurev-neuro-062111-150525
  4. Yoncheva, Y. N., Blau, V. C., Maurer, U., & McCandliss, B. D. (2010). Attentional focus during learning impacts N170 ERP responses to an artificial script. https://doi.org/10.1080%2F87565641.2010.480918Miller & Rollnick. Motivational Interviewing. Helping People Change. 3rd Edition. (2013)
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