Text: Selina Eckhardt | Sparring: Judith Begiebing | Korrektorat: Elisa Köhler | Stimme: Friederike Niermann |

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Im Sprint

- Gelerntes ist in Form von Gedächtnisspuren, sogenannten Engrammen, gespeichert, welche strukturelle Veränderungen des Gehirns bezeichnen und in ihrer Gesamtheit das Gedächtnis bilden

- Auf den Aneignungsprozess bezogen kann zwischen den Lerntypen Kumulation, Assimilation, Akkomodation und Transformation unterschieden werden

- Barrieren des Lernens sind das Falschlernen, die Abwehr gegen das Lernen sowie der Widerstand gegen das Lernen, wobei auch interne und externe Lernbedingungen von Bedeutung sind

A. Das Fundament

Dem Triangelmodell von Illeris aus den vorherigen Artikeln liegt ein konstruktivistisches Lernkonzept zugrunde. Das heißt, es wird angenommen, dass die Lernende selbst, unter Einbeziehung ihrer Erfahrungen und Emotionen, aktiv mentale Konstrukte in bereits bestehende Strukturen einbettet sowie neue aufbaut. Diese Strukturen existieren daraufhin im Gehirn und werden gewöhnlich als mentale Schemata bezeichnet. Das bedeutet, im Gehirn muss es eine Art Organisation des Lernoutputs geben. Beim Bewusst werden – von etwa einem Problem, einer Person oder einem Thema – muss man nämlich innerhalb von Millisekunden fähig sein, eine Reaktion, relevantes Wissen, Verständnis, eine Haltung dazu, oder Ähnliches abzurufen. Diese Organisation ist keineswegs als Archiv zu verstehen und es ist auch nicht möglich, die verschiedenen Elemente in spezifischen Hirnarealen ausfindig zu machen. Diese strukturellen Veränderungen der Gehirnstruktur, sogenannte Engramme, sind Gedächtnisspuren, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit „wiederverwendet“ und damit immer weiter konsolidiert werden. Analog zu einem Trampelpfad im Wald, der sich verbreitert, je häufiger er benutzt wird. Vermutlich mit einem leicht anderen Verlauf wegen der Auswirkung neuer Erfahrungen oder einem neuen Verständnis. Neue Impulse können auf verschiedenen Wegen in die mentale Organisation inkludiert werden. Auf dieser Basis unterscheidet Illeris in vier verschiedene Lerntypen, die in verschiedenen Kontexten verschiedene Lernresultate implizieren und mal mehr, mal weniger Energie erfordern. Es handelt sich dabei um eine Elaboration eines Lernkonzepts, welches ursprünglich von Piaget entwickelt wurde.

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Theorie des Lernens 3: Wie lernt man? #1
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B. Die vier Typen des Lernens

Die vier Lerntypen Kumulation, Assimilation, Akkomodation und Transformation beziehen sich auf den Aneignungsprozess und werden von ihrer Beziehung zu den mentalen Schemata charakterisiert. An dieser Stelle wird die Definition der Lerntypen nur angeschnitten und im weiteren Verlauf der Beitragsreihe werden die Vorgänge im Gehirn und Nervensystem näher erläutert.

  • Kumulation: Durch kumulatives Lernen wird abgegrenztes, wiederholungsorientiertes Wissen entwickelt, das in Situationen verwendet werden kann, die der Lernsituation in einer entscheidenden Weise entsprechen. Es findet beispielsweise beim klassischen Vokabellernen, aber auch beim Erlernen eines neuen Bewegungsablaufes wie Fahrradfahren statt und ist von Rigidität charakterisiert.
  • Assimilation: Durch assimilatorisches Lernen wird Wissen, das anwendungsorientiert ist, entwickelt. Es kann in Situationen verwendet werden, die das fragliche Thema in den Vordergrund bringt.  Es findet etwa statt, wenn eine Schülerin im Mathematikunterricht schon ein gewisses Vorwissen von Arithmetik hat und nun eine neue Operation lernen soll. Neues Wissen entsteht dann durch die assimilative Erweiterung des mathematischen Plans der Schülerin.
  • Akkomodation: Durch akkomodatorisches Lernen wird Verständnis oder interpretationsorientiertes Wissen entwickelt. Es kann flexibel in einer breiten Reihe an relevanten Kontexten angewendet werden. Es findet zum Beispiel statt, wenn die Lernende plötzlich etwas „realisiert“, also sich einer ganz bestimmten Sache in einer spezifischen Situation bewusst wird. Dabei handelt es sich um eine Erfahrung, die auch später noch „hängen bleibt“.
  • Transformation: Durch transformatives Lernen wird persönlichkeitsintegriertes Wissen auf Basis von Assoziationen entwickelt. Es kann in allen subjektiv relevanten Kontexten gebildet werden. Leidet eine Person beispielsweise an Schmerzen, befindet sie sich damit in einer unangenehmen Situation, die sie gerne verändern würde. In diesem Kontext fällt es ihr leichter zu lernen, dass regelmäßige Bewegung eine sinnvolle Gewohnheit ist, um langfristig gesünder und schmerzfreier zu leben.

C. Barrieren zum Lernen

Trainerinnen sehen sich immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass der angestoßene Lernprozess nicht wie intendiert stattfindet. Neue Informationen werden abgelehnt, oder es wird etwas anderes gelernt als eigentlich vorgesehen. Was passiert in diesen Fällen? Laut Illeris gibt es drei Hauptbarrieren, die hier eine Rolle spielen: das Falschlernen, die Abwehr- sowie der Widerstand gegen das Lernen. Die Ambivalenz stellt eine besondere Form der Abwehr dar. Hierbei möchte die Lernende gleichzeitig etwas und nichts dazulernen.

Das Falschlernen: kann aus inadäquaten Vorkenntnissen, mangelhafter Konzentration, Missverständnissen oder unpassender Kommunikation resultieren. Es kommt regelmäßig vor, kann aber, in vielen Fällen relativ einfach korrigiert werden. Dass auf diese Weise falsche Kenntnisse, Missverständnisse und Biases entstehen, die jeder Mensch mit sich herumträgt, ist völlig normal und lässt sich nicht immer verhindern.

Abwehr gegen das Lernen: Sie ist eine Notwendigkeit in der modernen „Wissensgesellschaft“, in der die Lernmöglichkeiten die Lernkapazitäten eines Individuums bei Weitem übersteigen. Es können hier drei Hauptkategorien der Abwehr unterschieden werden. Das Konzept des Alltagsbewusstseins beinhaltet eine halbautomatische, selektive Abwehr gegen das schiere Volumen an Lernimpulsen, die im täglichen Leben auftauchen. Es impliziert außerdem eine mentale Abwehr gegen den konstanten Fluss aus Veränderungen, mit welchen man ständig konfrontiert wird. In ernsteren Fällen, wenn die Veränderungen wichtige, unliebsame Veränderungen der Lebenssituation bedeuten, kann eine noch umfangreichere und tiefere Identitätsabwehr mobilisiert werden. Daraus kann schließlich eine Abwehr gegen die Erfahrung der Machtlosigkeit entstehen. Sie kann die Form eines Schutzwalles gegen die machthabenden Autoritäten annehmen, die als unvernünftig wahrgenommen werden. Oder sie bringen konstruktivere Reaktionen in Form von der Entwicklung eines kohärenten Verständnisses der Veränderung und dem Modus des Inbeziehungsetzens hervor.

Widerstand gegen das Lernen: Er wird in Kontexten und Situationen mobilisiert, die als inakzeptabel erlebt werden. Alle Menschen entwickeln Widerstandspotenzial, dass im Auge von inakzeptablen Situationen aktiviert werden kann und unter anderem eine wichtige Kraft für das Lernen darstellt. Sie nimmt dann typischerweise andere Wege, als die gewöhnlich bekannten und intendierten. Diese Barriere kann aber ein wichtiger Teil von persönlicher und gesellschaftlicher Entwicklung sein. Eine Therapeutin, die ein wissenschaftliches Fundament ihrer Therapie als wichtigen Teil ihrer beruflichen Identität begreift, ist möglicherweise widerständig gegen das Lernen alternativmedizinischer oder nicht belegter Methoden in einer Fortbildung.

D. Interne und externe Lernbedingungen

Laut Illeris sind die in diesem und den letzten Artikeln erläuterten Prozesse, Dimensionen, Typen und Barrieren zum Lernen Bestandteile, die in jeder Lerntheorie, die das gesamte Feld des Konzepts darstellen möchten, enthalten sein müssen. Zusätzlich existieren auch noch andere Themen, die das Lernen beeinflussen, ohne direkt dabei involviert zu sein und die er deshalb als Lernbedingungen bezeichnet.

Die individuelle Kapazität einer Person zum Lernen ist sowohl genereller biologischer, soziokultureller und ethnischer Natur als auch individuell und persönlich. Auf dem individuellen Level gibt es die „klassische“ Frage von Intelligenz und Fähigkeiten, mit verschiedensten miteinander konkurrierenden Theorien und zeitweise leidenschaftlichen Diskussionen. Mittlerweile herrscht Einigkeit darüber, dass verschiedene Menschen in einer komplexen Interaktion aus angeborenen- und  Umwelteinflüssen verschiedene Dispositionen für verschiedene Arten des Lernens entwickelt haben. Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass diese Dispositionen weiterhin immer wieder verändert und entwickelt werden können. Statistisch gesehen existieren zudem einige genderabhängige Lernunterschiede, generelle interindividuelle Unterschiede des Lernstils konnten bisher noch nicht eindeutig identifiziert werden.

Als wichtigste externe Bedingung für das Lernen konnte die Forschung der letzten Jahrzehnte überzeugend eine sogenannte „soziale Erblichkeit“ feststellen. Sie hat einen mächtigen Einfluss darauf, in welcher Art und Weise Gruppen, die bildungstechnisch, sozial, ökonomisch und kulturell die besten Voraussetzungen haben, auch generell quantitativ und qualitativ höhere Level im Bildungssystem erlangen. Es scheint nicht möglich zu sein, diese Verbindung zu brechen oder wenigstens entscheidend anhand von bisher existierenden bildungspolitischen Maßnahmen zu reduzieren. Wichtig ist trotzdem festzuhalten, dass obwohl diese Bedingungen klar in Statistiken sichtbar werden, sie nicht automatisch für ein Individuum zutreffen müssen und es möglich ist, gerade in der Einzeltherapie Einfluss darauf zu nehmen.

Aufs Feld

Trainerinnen und Therapeutinnen können im Praxisalltag immer wieder mit Barrieren des Lernens konfrontiert sein. Das Falschlernen kann beispielsweise im Rahmen von Nocebos negative Folgen auf Schmerzen und/ oder Leistung haben. Sind neue Informationen nicht mit existierenden mentalen Schemata konsistent, kann es zu einer Abwehr oder Widerstand gegen das Lernen kommen. In solchen Situationen ist es Aufgabe der Trainerin Interesse am Lerninhalt zu schaffen und damit den Antrieb zu fördern, damit es zum akkomodativen Lernen und somit zur Umstrukturierung bestehender Schemata kommt.

Literatur

  1. Illeris, K. (2007). How we learn: Learning and non-learning in school and beyond. ISBN 0-203-93989-1.Miller & Rollnick. Motivational Interviewing. Helping People Change. 3rd Edition. (2013)

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