Text: Simon Klug | Sparring: Pat Preilowski & Leon Cassian Hammer | Korrektorat: Judith Begiebing | Stimme: Friederike Niermann |

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Im Sprint

- Kernstück von MI sind die Prinzipien „Widerstehe dem Reflex zu korrigieren“ (resist the righting reflex), „Verstehe die Motivation der Klientin“ (understand), „Höre der Klientin zu“ (listen) und „Befähige die Klientin“ (empower)

- Der righting reflex bezeichnet die Tendenz von Beraterinnen ihren Klientinnen den vermeintlich richtigen Lösungsweg aufzuzeigen

- Die Informations-Defizit-Hypothese beschreibt, dass Informationen allein nicht zuverlässig zu einer Verhaltensänderung führen

A. Kommunikationsfallen vermeiden: Prinzipien geleitet vorgehen

Als Trainerin ist es nicht immer leicht, mit der Expertinnenrolle umzugehen, um personenzentriert zu arbeiten und die Klientin in den Mittelpunkt zu stellen. Schnell etabliert man mit gut gemeinten Ratschlägen, Korrekturen oder vorschnellem Fokussieren („Genau das ist, was dir fehlt“) ein hierarchisches Gefälle, welches klarmacht, wer hier das Sagen hat.

MI als kollaborativer Prozess möchte, dass zwei Expertinnen auf Augenhöhe agieren, weil es für Verhaltensänderung unabdingbar ist, dass die Klientin ihren Teil beiträgt – und der ist mindestens so groß wie der Teil der Trainerin. Es soll am gleichen Seil mit gleicher Kraft in die gleiche Richtung gezogen werden.

Weil diese Kommunikationsfallen häufig sind, widmen sowohl Miller und Rollnick als auch der Autor dieses Artikels dem Thema besondere Aufmerksamkeit – hier in Form dieses und des folgenden Texts.

Im ersten Text stehen die Prinzipien des MI und der berüchtigte „righting reflex“ im Vordergrund und im zweiten Text werden Fallen und „roadblocks“ wie die Expertinnen- oder Etikettierungsfalle beleuchtet.

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Motivational Interviewing 6: Prinzipien & resist the righting reflex
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B. Prinzipien des MI

MI stellt den Anwenderinnen zusätzlich zur personenzentrierten Grundhaltung, den Basistechniken und anderen technischen Hilfsmitteln Prinzipien zur Seite, die die Interaktion leiten sollen.

Die vier Prinzipien des MI sind: „Widerstehe deinem Reflex die Klientin zu korrigieren“ (1), „Verstehe die Motivation deiner Klientin“ (2), „Höre deiner Klientin zu“ (3) und „Befähige deine Klientin“ (4).

Im Englischen kann hierfür wieder ein Akronym als Merkhilfe konstruiert werden: RULE. RULE steht im Original für „resist the righting reflex“ (1), „understand” (2), „listen” (3) und „empower” (4).

C. Der “righting reflex”

Als Trainerin oder Therapeutin wollen wir Menschen helfen. Wir qualifizieren uns und häufen eine Menge Fachwissen an und sehen als Expertinnen Lösungen, die Laien verborgen bleiben. Wir sehen auch Probleme, die vermutlich auftreten werden, wenn Klientinnen nicht interessiert an unsere guten Ideen sind. Weil wir Menschen helfen wollen, löst es in uns regelmäßig ein Verlangen auszuhelfen, anzuleiten und zu korrigieren, wenn unsere Klientinnen Dinge nicht „korrekt“ tun. Das ist der righting reflex – das Verlangen zu reparieren, was wir als falsch, unproduktiv oder wenig hilfreich empfinden. Dieser Reflex ist eng gekoppelt mit dem direkten Anbieten von Lösungen. Aber diese Lösungen sind unsere und nicht die der Klientin.

Unsere Klientinnen stehen Veränderungen ambivalent gegenüber – sie wollen gleichzeitig eine Veränderung, aber es gibt auch immer gute Gründe dafür, warum alles bleiben sollte, wie es ist. Wenn die Veränderung einfach wäre, dann wäre sie schon geschehen. Ein sich noch nicht verändert haben, liegt in der Regel auch nicht in rationalen Kognitionen begründet: die meisten Menschen, die eine Trainerin aufsuchen, wissen, dass sie sich zu wenig bewegen. B.J. Fogg beschreibt in seinem Buch über Gewohnheitsformierung “Tiny Habits” die Informations-Defizits-Hypothese so:

“Information alone does not reliably change behavior. This is a common mistake people make, even well-meaning professionals. The assumption is this: if we give people the right information, it will change their attitudes, which in turn will change their behaviors. I call this the “Information-Action Fallacy.”

Nun kommen in der Interaktion zwei Personen zusammen: eine Trainerin, die ihrem righting reflex nicht widersteht und eine Klientin, die ihrer Veränderung ambivalent gegenüber ist. Die ambivalente Klientin hat gute Gründe für, aber auch gegen eine Veränderung (und daher gute Gründe für und gegen den Status quo). Der righting reflex sorgt dafür, dass die Expertin sich „auf die Seite“ der Veränderung stellt und noch mehr gute Gründe dafür ausspricht, dass sich die Klientin verändern sollte.

Die Wunschvorstellung wäre wohl folgender beispielhafter Dialog: [Trainerin] „Sie machen einfach zu wenig Sport. Wenn Sie nicht regelmäßig trainieren, dann bekommen Sie Rückenschmerzen“. [Klientin]: „Au ja. Da haben Sie recht. Das war wirklich dumm von mir, dass ich mich die letzten zehn Jahre nicht genug bewegt habe. Ich habe nicht kapiert, dass das eine wichtige Sache ist und ich werde gleich morgen damit anfangen.“

Eine etwas realistischere Variante des Dialogs könnte sein: [Trainerin] „Sie machen einfach zu wenig Sport. Wenn Sie nicht regelmäßig trainieren, dann bekommen Sie Rückenschmerzen“. [Klientin]: „Nein. Ich bewege mich eigentlich schon häufig. Gelegentlich gehe ich spazieren und wenn es der Alltag zulässt, gehe ich auch mal ins Studio. Ich bin ja jetzt auch hier.“ Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Klientin die Argumente für mehr Bewegung schon selbst gedacht und auch von anderen gehört hat.

Sie hat Probleme, die gesünderen Gewohnheiten nachhaltig zu etablieren und würde sich vermutlich vor den Kopf gestoßen fühlen, wenn ihr die Expertin, bei der sie gerade Hilfe sucht, das auch noch auftischt. Es ist weiterhin nicht unwahrscheinlich, dass die Klientin, die ja ambivalent ist, nun die Seite des Status quo verteidigt: Sie rechtfertigt sich, sie erklärt, warum es nun gerade mit dem Sport nicht so klappt, und spricht die triftigen Gründe dafür aus, warum es bleiben sollte, wie es ist.

Das war ein kontraproduktiver Verlauf für ein Gespräch über Veränderung. Im MI will die Expertin die Klientin als Fürsprecherin der eigenen Veränderung gewinnen. Menschen ändern sich eher, wenn sie die Dinge selbst aussprechen (Bem’s self perception theory). Also wollen wir erreichen, dass die Klientin ihre eigenen Gründe für ihre eigene Veränderung ausspricht – und sie nicht in die Rolle drängen, dass sie ihre Gründe dafür ausspricht, sich jetzt nicht zu verändern. Es ist also wichtig, wenn man personenzentriert eine Verhaltensänderung unterstützen will, sich zunächst auf die Zunge zu beißen und die Klientin nicht direkt zu korrigieren.

D. Was nun?

Was verschlimmert die Situation? Was verbessert die Situation?
Kognitive Fusion mit der Expertinnenrolle Die Klientin als erstes akzeptieren und gemeinsam die Ambivalenz erkunden
Kognitive Fusion mit der Situation Von der eigenen Expertinnenrolle und vom eigenen Ego lösen
Selbst die Vorteile von Veränderung benennen Von der eigenen Agenda lösen
Selbst die Nachteile des Status quo benennen Die Agenda der Klientin bestärken und sie befähigen
Ungefragt Rat anbieten und Handlungsvorschläge unterbreiten Bestätigen, dass Veränderung nicht immer leicht ist
„Ja, aber…“ Interesse an den Vorteilen des Status quo zeigen
Inakzeptierend gegenüber der Klientin werden, weil man logisch gefolgert hat, dass die Chance auf Veränderung gering ist
Pathologisierung der Klientin, weil das “nicht ändern wollen” als Teil einer “faulen” Person betrachtet wird und Widerstand in der Beraterin auslöst

Was verschlimmert die Situation?

  • Kognitive Fusion mit der Expertinnenrolle
  • Kognitive Fusion mit der Situation
  • Selbst die Vorteile von Veränderung benennen
  • Selbst die Nachteile des Status quo benennen
  • Ungefragt Rat anbieten und Handlungsvorschläge unterbreiten
  • „Ja, aber…“
  • Inakzeptierend gegenüber der Klientin werden, weil man logisch gefolgert hat, dass die Chance auf Veränderung gering ist
  • Pathologisierung der Klientin, weil das “nicht ändern wollen” als Teil einer “faulen” Person betrachtet wird und Widerstand in der Beraterin auslöst

Was verbessert die Situation?

  • Die Klientin als erstes akzeptieren und gemeinsam die Ambivalenz erkunden
  • Von der eigenen Expertinnenrolle und vom eigenen Ego lösen
  • Von der eigenen Agenda lösen
  • Die Agenda der Klientin bestärken und sie befähigen
  • Bestätigen, dass Veränderung nicht immer leicht ist
  • Interesse an den Vorteilen des Status quo zeigen

E. Den righting reflex spüren und verstehen

Um den righting reflex besser zu verstehen und zu spüren, was dabei innerlich abläuft, ist ein Probeszenario hilfreich, bei dem man ein Gespräch mit einer Freundin oder Partnerin, zu einem Thema, bei dem man selbst noch ambivalent ist, führt. Am besten wählt man ein Thema, das „an die Substanz geht“ – etwas, was man eigentlich schon immer ändern wollte, sollte oder müsste, aber es noch nicht getan hat. Jetzt bittet man die Helferin für die Veränderung zu argumentieren und dabei so richtig aus dem Vollen zu schöpfen: Sie soll eindrücklich erklären, wie absolut notwendig die Veränderung ist, um negative Konsequenzen zu vermeiden; wie dringend diese Veränderung vorgenommen werden muss; wie viele Gründe für die Wichtigkeit der Veränderung sprechen; wie man die Veränderung am besten umsetzt; die Versicherung und das Vertrauen ausspricht („Du schaffst das schon!“) und auch die Ermahnung, dass man besser jetzt den Veränderungsprozess startet.

Die Aufgabe ist eine Reflexion: Wie würdest du reagieren? Fühlst du dich, als würde dir geholfen? Wenn nein, wie fühlst du dich stattdessen?

Um den Spirit von MI zu spüren, kann man das Szenario in abgewandelter Form gestalten. Das Thema soll nach den gleichen Regeln ausgewählt werden und die Helferin bleibt auch die Gleiche. Die Helferin soll aber nicht für die Veränderung sprechen, sondern fünf Fragen stellen, die Miller & Rollnick als Einsteigerfragen für diesen Zweck etabliert haben:

  1. „Warum willst Du diese Veränderung vornehmen?“
  2. „Wie könntest Du vorgehen, um dabei erfolgreich zu sein?“
  3. „Was sind Deine drei besten Gründe, um das zu tun?“
  4. „Wie wichtig ist Dir diese Veränderung und warum?“ Einschub: hier eine kleine Zusammenfassung des Gehörten durch die Helferin (Siehe Basistechniken).
  5. „…Und…glaubst Du, dass Du es auch umsetzt?“

Die anschließende Aufgabe ist auch die Gleiche: Wie würdest du reagieren? Fühlst Du Dich, als würde Dir geholfen? Wenn nein, wie fühlst Du Dich stattdessen?

Aufs Feld

Das Widerstehen des righting reflex ist in der Praxis essenziell, um eine Erhöhung des Widerstands gegen eine Verhaltensänderung aufseiten der Klientin zu verhindern. Beraterinnen sei angeraten dem Drang zu helfen, aufzuklären und zu widersprechen nicht nachzugeben, da Informationen allein nicht ausreichend für eine Verhaltensänderung sind. Stattdessen sollte die eigene Rolle und Agenda in den Hintergrund gestellt und die der Klientin bestärkt werden.

Literatur

  1. Bem. Self-Perception Theory. (1972)
  2. Fogg. Tiny Habits: The Small Changes That Change Everything. (2020)
  3. Miller & Rollnick. Motivational Interviewing. Helping People Change. 3rd Edition. (2013)
  4. Miller, Rollnick, Butler. Motivational Interviewing in Health Care: Helping Patients Change Behavior. (2008)
  5. Rollnick, Fader, Breckon, Moyers. Motivational Interviewing in Sports. Coaching Athletes to Be Their Best. (2020).

Eine primäre Recherche- und Leseempfehlung sind die Bücher von Miller & Rollnick selbst. Hier kann die Methode im Ganzen verzerrungsfrei (theoretisch) erfasst werden und reichhaltige Foot- oder Endnotes bündeln vorhandende Evidenzen.

Weiterführender Inhalt

Einen ersten Blick auf MI kann man im Interview mit Uli Gehring von GK Quest werfen.

Für Physiotherapeutinnen besonders interessant ist ein Interview mit Prof. Dr. Thomas Messner, der sich insbesondere mit MI in der Physiotherapie beschäftigt.

Etwas umfangreicher (1h 6min) ist der PhysioBib Podcast mit Prof. Dr. Thomas Messner, bei dem es auch um MI in der Physiotherapie geht.

Wer Motivational Interviewing als Präsenzkurs oder in der Onlinevariante bei Thomas Messner erleben möchte, wird bei BEST fündig. Angeboten wird zurzeit ein Grundkurs, der sich vor allem an Therapeutinnen und Trainerinnen richtet.

Wer mehr über Motivational Interviewing lesen möchte, dem seien als Erstes die oben genannten Bücher von Miller & Rollnick ans Herz gelegt. Ein erster Blick in die Evidenz ist leicht via der Foot- und Endnotes möglich.

Wer tiefer in die wissenschaftliche Seite und Evidenz hinter der Methode einsteigen will, kann einen Blick in die angeführte Fachliteratur und in freizugängliche Primärquellen (etwa via PubMed oder Google Scholar werfen). Hierbei ist erwähnt, dass MI eine Methode ist und dann in vielen unterschiedlichen Kontexten untersucht wurde und wird, man also konkrete Fragestellungen, bei denen MI angewendet wurde, sucht. Es bietet sich also an, die eigene Fragestellung mit der Zielpopulation und den gewünschten Outcomes selbst zu recherchieren.

Beispielhaft finden sich einige Belege der höheren hierarchischen Ebenen hier:

MI als eine evidenzbasierte Methode zur Verhaltensänderung kann in vielen Kontexten und Populationen eingesetzt werden. Diese kurze und breite Auflistung soll einladen, konkrete Fragestellungen selbst zu recherchieren.

Für die weiteren Artikel dieser Serie ist anzumerken, dass nun die Methode “von Innen heraus” dargestellt wird, nachdem die grundsätzliche Wirksamkeit etabliert wurde. Es soll ein Hereinschnuppern in Motivational Interviewing ermöglichen und die Anwenderinnen motivieren sich auf die Methode, auf eine personenzentrierte Haltung und ihre Techniken einzulassen. Außerdem können die Texte vielleicht als kleines Nachschlagewerk dienen, die die Anwendung erleichtern.

Interessenkonflikt

Der Autor, Simon Klug, unterrichtet MI an Fach- und Hochschulen und ist als Seminarleiter für MI tätig.

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