Text: Selina Eckhardt | Sparring: Judith Begiebing | Korrektorat: Elisa Köhler | Stimme: Friederike Niermann |

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Im Sprint

- In Predictive Processing Theorien wird davon ausgegangen, dass sogenannte interne Modelle Vorhersagen über eintreffende Informationen generieren, welche mit tatsächlich eintreffenden Informationen verglichen werden. Bei erkannten Diskrepanzen (prediction error) wird das interne Modell entsprechend angepasst.

- Voraussetzungen für die Annahmen des Predictive Processing sind ein durch die Evolution angeborenes Wissen beziehungsweise Hypothesen (Priors oder Nature) sowie die Überarbeitung dieser Hypothesen durch Schlussfolgerungen basierend auf persönlicher Erfahrung (Posterior oder Nurture)

- Mit Hinblick auf Erinnerungen kann zwischen Arbeitsgedächtnis, episodischem Gedächtnis, semantischem Gedächtnis und Verfahrensgedächtnis unterschieden werden

A. Die passende Hypothese finden

Im zweiten Teil „Wie lernt man“ ging es um das Lernen 1. Ordnung, das auf Regeln und Symbolen basiert sowie um das Lernen 2. Ordnung, bei welchem Lernen dem logischen Denken (Reasoning) ähnelt. Bleibt die Frage, wie das Gehirn beim Reasoning die am besten passende Hypothese auswählt, also welche Kriterien dazu führen, dass ein Modell der externen Welt akzeptiert oder verworfen wird. Außerdem wird im weiteren Verlauf dieses Artikels die Frage behandelt, welchen Einfluss die Genetik und die Erziehung auf das Lernen haben und wie Erinnerungen abgespeichert werden.

A.1 Das Gehirn als Wissenschaftlerin

Eine der jüngsten Lerntheorien, verfolgt die Hypothese, dass sich das Gehirn wie eine aufstrebende Wissenschaftlerin verhält. Wenn Wissenschaftlerinnen eine neue Theorie formulieren, treffen sie Vorhersagen (predictions) und halten dazu unter anderem Vermutungen darüber fest, was sie bewirken oder in welchen Kontexten sie nützlich sein könnte. Diese wissenschaftlichen Hypothesen werden im Forschungsprozess dann entweder validiert oder verworfen, je nachdem, ob die Vorhersagen bekräftigt oder widerlegt werden. (Alltags-)Beobachtungen sind selten wahr oder falsch, sondern unsicher und probabilisitisch. Infolgedessen haben Mathematikerinnen und Computerwissenschaftlerinnen lange versucht, eine Theorie zu finden, welche die beste Art der Schlussfolgerung bei vorhandener Unsicherheit beschreibt. Die zugehörige Theorie ist auf Deutsch bekannt als bayesischer Wahrscheinlichkeitsbegriff, oder aus dem Mathematikunterricht wahrscheinlich eher mit dem Namen Laplace verbunden. Was haben Bayes und Laplace also herausgefunden? Wie in Abbildung eins dargestellt, beschreiben sie, wie man mit Wahrscheinlichkeiten argumentiert und welche Typen logischer Schlüsse (Syllogismen) angewendet werden müssen, wenn die Daten weder richtig noch falsch sind, sondern probabilistisch.

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Theorie des Lernens 5: Wie lernt man? #3
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Und was hat das mit Lernen zu tun? Ebendiese Art der Schlussfolgerung scheint auch im Gehirncortex stattzufinden. Jede Region des Gehirns stellt eine oder mehr Hypothesen auf und sendet die zugehörigen Vorhersagen zu anderen Regionen. Diese Signale werden auch als “top-down” bezeichnet, da sie in superioren Arealen starten und ihren Weg in inferiore, sensorische Areale (bspw. die Retina) machen. In der Retina werden dann die „top-down“-Nachrichten mit den sogenannten „bottom-up“ Nachrichten aus unseren sensorischen Nervensystem abgeglichen. Das ist der Moment, in dem das Modell mit der Realität konfrontiert wird. Das Gehirn berechnet nun ein Fehlersignal: den Unterschied zwischen dem vorhergesagten Modell und der tatsächlichen Beobachtung, und modifiziert so das interne Modell der Welt. Dieses Fehlersignal (prediction error) wandert in der Kette der Hirnareale wieder nach oben und passt die Parameter des Modells unterwegs an. Gibt es kein Fehlersignal, war das Modell richtig und es müssen keine Anpassungen vorgenommen werden. Diese Theorie wird auf Englisch auch predictive processing genannt, was in manchen deutschen Publikationen als vorausschauende Verarbeitung übersetzt wird.

B. Veranlagung oder Umwelt?

Gemäß dieser aktuellen Vorstellung vom Gehirn werden bei Beurteilungen im Erwachsenenalter zwei Ebenen der Erkenntnis kombiniert:

  1. Das der menschlichen Spezies immanente Wissen, das von Bayesianern “Priori” genannt wird. Das heißt eine Zusammenstellung plausibler Hypothesen, die im Laufe der Evolution vererbt wurden.
  2. Die persönliche Erfahrung, genannt “Posteriori”, bei der es sich um die Revision dieser Hypothesen handelt, basierend auf den Schlussfolgerungen, die im Laufe des Lebens gesammelt wurden.

Diese Aufteilung der Arbeit beendet auch die immer noch oft geführte Debatte von “nature vs. nurture”, also ob die meisten Fähigkeiten eher angeboren oder anerzogen sind. Wahrscheinlich wurde beides in der Vergangenheit eher unterschätzt. Bereits bei der Geburt steht dem Gehirn sowohl ein mächtiges Starter-Kit zur Verfügung, das eine Zusammenstellung von potenziellen Modellen bereitstellt. Gleichzeitig verfügt es über einen starken Algorithmus, um die bereits vorhandenen a priori Hypothesen mit der Wirklichkeit abzugleichen und gegebenenfalls anzupassen.

Es existieren verschiedene Beispiele dafür, dass das Gehirn eines Babys kein unbeschriebenes Blatt ist, wie es zum Beispiel noch John Locke vermutete:

  • Objektverständnis:  Schon nach einigen Monaten wissen Babys, dass die Welt aus Objekten besteht, die sich kohärent bewegen, Platz beanspruchen, nicht ohne Grund verschwinden und nicht an zwei Orten zur selben Zeit sein können (Baillargeon, R., & DeVos, J.,1991; Spelke et al. 1992).
  • Zahlensinn: Bereits bei der Geburt besitzen Babys die intuitive Fähigkeit, eine annähernde Anzahl zu erkennen, ohne zu zählen. Dabei ist egal, ob die Anzahl gehört oder gesehen wird (Izard et al., 2008; Xu, F., & Arriaga, R. I. 2007).
  • Wahrscheinlichkeitsintuition: Kinder verhalten sich wie aufstrebende Wissenschaftlerinnen, die wie gute Statistikerinnen logisch Denken. Sie eliminieren die unwahrscheinlichste Hypothese und suchen nach versteckten Ursachen von unzähligen Phänomenen (Xu, F., & Garcia, V., 2008; Denison, S., & Xu, F. 2014).
  • Gesichtserkennung: Eine der frühsten Manifestationen von sozialen Fähigkeiten ist das Wahrnehmen von Gesichtern. Schon wenige Stunden nach der Geburt drehen Babys ihr Gesicht schneller zu einem Smiley als zu einem ähnlichen Bild, das auf den Kopf gestellt wurde (Reid et al., 2017).
  • Sprachsinn: Ähnlich zügig erkennen sie Sprache und hören beispielsweise lieber ihrer Muttersprache zu, als einer fremden oder unbekannten Sprache (Moon et al., 1993).

Diese frühe Organisation des Gehirns ist aber nicht in Stein gemeißelt. Auf der zweiten Ebene der Erkenntnis wird sie durch Erfahrung verfeinert und bereichert. Wie verändern sich also die Schaltkreise im Gehirn durch Lernen? Man kann sagen, Synapsen verändern sich konstant über die gesamte Lebensspanne und diese Veränderungen spiegeln das Gelernte wider. Die Veränderung der Synapsenstärke findet dabei nicht zufällig statt, sondern indem sie ihre Fähigkeit sich gegenseitig in Erregung zu versetzen immer wieder verstärken, wenn sie dies auch schon in der Vergangenheit getan haben.

”Neurons that fire together wire together” Donald O. Hebb.

Das Gehirn kann aber keine Aufzeichnung von jedem Lebensevent behalten, sondern es werden nur die Momente in die Synapsen eingeprägt, die das Gehirn als am Wichtigsten einstuft. Ein Phänomen, das Langzeitpotenzierung genannt wird, kann dafür sorgen, dass Synapsen für mehrere Stunden modifiziert bleiben, was ideal zu sein scheint, um Erinnerung für eine lange Zeit zu behalten. Das ist unter anderem der Grund dafür, dass viele noch wissen, wie sie am 11. Sepetmber 2001 von dem Anschlag auf das World Trade Center erfahren haben.

C. Was ist eine Erinnerung?

Laut Dehaene ist jede zurückgeholte Erinnerung eine Rekonstruktion. Das heißt, Erinnern ist der Versuch, dasselbe neuronale Muster noch einmal in denselben Hirnschaltkreisen wie während der vergangenen Erfahrung abzuspielen. Sie können also keiner bestimmten Hirnregion zugeschrieben werden. Zwar ist die Terminologie noch vage und in der Entstehung, doch können Forscher zumindest vier verschiedene Typen von Erinnerungen unterscheiden:

  • Arbeitsgedächtnis: Bewahrt eine aktive mentale Repräsentation für einige Sekunden auf. Sie hält nur kurz an und sobald man abgelenkt wird, verblasst die Ansammlung von aktiven Neuronen.
  • Episodisches Gedächtnis: Neuronen im Hippocampus scheinen den Kontext jedes Events zu speichern, also wo, wann, wie und mit wem etwas passiert ist. Solange die erlernte Information einzigartig ist, sei es ein spezifisches Event oder eine neue Entdeckung, ordnen die Neuronen im Hippocampus sie einer spezifischen “firing sequence” (etwa Zündfolge) zu.
  • Semantisches Gedächtnis: Erinnerungen scheinen nicht im Hippocampus zu bleiben, sondern einzelne Episoden werden über Nacht in langlebiges Wissen transformiert und später ist nicht mehr nachvollziehbar, wo man die Information zum ersten Mal gehört hat.
  • Verfahrensgedächnis: Hier werden kompakte, unbewusste Aufzeichnungen von wiederkehrenden Aktivitätsmustern abgelegt. Eine immer wiederkehrende Handlung wie zum Beispiel Schuhe binden wird dadurch so modifiziert, dass sie in Zukunft effektiver abläuft.

Die sogenannte Neuroplastizität zusammengefasst: Beispielsweise ein Event oder ein Konzept soll als Erinnerung abgespeichert werden. Hierfür wird als erstes die Ansammlung von Neuronen aktiviert, die dieses Event oder Konzept codiert. Um dies als Erinnerung abzuspeichern wird die Verbindung zwischen Neuronen (also die Synapse) verstärkt, wenn die darüber verbundenen Neuronen kurz hintereinander aktiviert werden. Hier greift Hebb’s Regel: Neurone, welche sich gegenseitig aktivieren, interagieren miteinander und verdrahten sich. Eine so gestärkte Synapse, steigert ihre Effizienz durch Wachstumsprozesse, ähnlich wie eine Produktionssteigerung in einer Fabrik.

Währenddessen verändert sich auch die Form des Neurons. So finden beim Lernen massive biologische Veränderungen im Gehirn statt, die nach ausreichend Zeit im MRT sichtbar werden. Zum Beispiel das Lernen eines Instruments, einer Sprache oder ähnlichem resultiert in einem dickeren Hirncortex und der Verstärkung von kortikalen Verbindungen, ähnliche wie breite Autobahnen als meistgenutzte Wege im Straßennetz.

D. Was bedeutet das für die Praxis?

Die in diesem Artikel beschriebene Neuroplastizität ist eine Anpassungsvariable, fundamental für das Lernen. Gleichzeitig ist sie limitiert und beschränkt durch alle möglichen genetischen Bedingungen, die Menschen zu dem machen, was sie sind: eine Verbindung aus einem festgelegten Genom und einzigartigen Erfahrungen. Die Plastizität ist zwar das ganze Leben vorhanden, jedoch nur in einem begrenzten Zeitinterval maximal. Dieses Intervall wird auch sensitive Periode genannt und beginnt in der frühen Kindheit, erreicht ihren Höhepunkt und nimmt dann graduell ab, während man altert.

In the human species, the peak of synaptic overproduction ends around two years of age in the visual cortex, three or four years of age in the auditory cortex, and between five and ten years of age in the prefrontal cortex (Stanislas Dehaene, 2020).

Es lohnt sich also früh, mit verschiedenen Dingen wie beispielsweise einem Instrument, einer Sprache und verschiedenen Sportarten zu beginnen, um Grundlagen für das weitere Leben zu legen. Es ist aber auch nie zu spät, mit etwas Neuem zu beginnen. Ein gesunder Lebensstil kann dabei helfen, das volle Lernpotenzial auszuschöpfen. Um in der Sekunde ein paar Millionen Synapsen herzustellen und zu verändern, sind eine ausgewogene Ernährung, optimale Sauerstoffversorgung und ausreichend physische Aktivität die wichtigsten Voraussetzungen.

Aufs Feld

Für das Verständnis bestimmter Verhaltensweisen oder Überzeugungen kann es hilfreich sein Patientinnen und Trainees vor Augen zu führen, dass nur die Ereignisse im Gedächtnis verbleiben, die für den Organismus von Bedeutung sind und/ oder häufig stattfanden (what fires together wires together). So kann beispielsweise eine Sportlerin von Schmerzen berichten, wenn sie sich an der Stelle des Spielfeldes befindet an der die Verletzung stattfand, oder die lange schmerzhafte Kniebeugung auch nach längst verheilter Verletzung noch immer Schmerzen bereiten. Um in diesen Fällen das offensichtlich nicht der Realität entsprechende interne Modell zu modifizieren, muss die Therapie oder das Training Stimuli bereitstellen, welche einen Vorhersagefehler provozieren, woraufhin das interne Modell angepasst wird (z.B. positive Erfahrungen an der Stelle des Spielfelds und Übungen mit schmerzfreier Kniebeugung).

Literatur

  1. Baillargeon, R., & DeVos, J. (1991). Object permanence in young infants: Further evidence. https://doi.org/10.1111/j.1467-8624.1991.tb01602.x
  2. Dehaene, S. (2020). How we learn: Why brains learn better than any machine... for now. ISBN 9780525559887.
  3. Denison, S., & Xu, F. (2014). The origins of probabilistic inference in human infants. https://doi.org/10.1016/j.cognition.2013.12.001
  4. Izard, V., Dehaene-Lambertz, G., & Dehaene, S. (2008). Distinct cerebral pathways for object identity and number in human infants. https://doi.org/10.1371/journal.pbio.0060011
  5. Moon, C., Cooper, R. P., & Fifer, W. P. (1993). Two-day-olds prefer their native language. https://doi.org/10.1016/0163-6383(93)80007-U
  6. Moon, C., Cooper, R. P., & Fifer, W. P. (1993). Two-day-olds prefer their native language. https://doi.org/10.1016/0163-6383(93)80007-U
  7. Reid, V. M., Dunn, K., Young, R. J., Amu, J., Donovan, T., & Reissland, N. (2017). The human fetus preferentially engages with face-like visual stimuli. https://doi.org/10.1016/j.cub.2017.05.044
  8. Spelke, E. S., Breinlinger, K., Macomber, J., & Jacobson, K. (1992). Origins of knowledge. https://doi.org/10.1037/0033-295X.99.4.605
  9. Xu, F., & Arriaga, R. I. (2007). Number discrimination in 10-month-old infants. https://doi.org/10.1348/026151005X90704
  10. Xu, F., & Garcia, V. (2008). Intuitive statistics by 8-month-old infants. https://doi.org/10.1073/pnas.0704450105
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