Motivational Interviewing 1:
Einleitung & Methode
A. Eine Methode, um Veränderung zu begleiten
Eine evidenzbasierte und gut untersuchte Methode, um Verhaltensänderung effektiv und nachhaltig zu begleiten, ist das Motivational Interviewing (MI).
Dieser Artikel ist der Erste aus einer kurzen Serie über MI. In diesem Artikel (1/10) wird in das Thema eingeführt und die Methode beschrieben, während es in den folgenden Artikeln um die Prozesse (2/10) und Techniken (3/10), personenzentrierte Edukation (4/10), die Förderung von change talk (5/10), die Prinzipien von MI und den righting reflex (6/10), Kommunikationsfallen (7/10), den Umgang mit Widerstand (8/10) und Planung und Umsetzung (9/10) gehen wird. In einem letzten Artikel sollen die besprochenen Inhalte noch einmal übersichtlich zusammengefasst werden (10/10). Abschließend werden ein kleines Übungsportfolio und Tipps zur Umsetzung angeboten.
MI hat das Ziel, die Eigenmotivation für eine Verhaltensänderung zu erhöhen. Dieses Vorgehen ist immer dann hilfreich, wenn Personen einer Veränderung zwiegespalten gegenüberstehen. Mit geschultem Einsatz kann so diese Ambivalenz personenzentriert aufgelöst werden.
Besonders wichtig hier ist, dass ein Gespräch immer mit einer bestimmten Haltung geführt wird. Die beinhalteten Techniken und Prozesse werden nur dann wirksam, wenn sie in der richtigen, personenzentrierten Haltung durchgeführt werden.

B. Einführung in das Motivational Interviewing
Aus der eigenen Erfahrung - entweder an sich selbst oder an anderen im Freundeskreis oder beobachtet an Patientinnen und Trainees, wissen wir: es nicht immer einfach, sein Verhalten zu ändern und das gesündere oder schlauere zu tun. MI will Verhaltensänderung begleiten und unterstützen und setzt dabei daran an, die innerliche Zerrissenheit (Ambivalenz) einer Klientin zwischen dem beibehalten des Status Quo und der Veränderung zu beleuchten und zu bearbeiten. Durch ein gemeinsames Durchlaufen von Prozessen in einer besonderen therapeutischen Grundhaltung soll diese Ambivalenz aufgelöst werden. Doch was ist MI denn nun eigentlich und wie will MI das Ziel der Verhaltensänderung erreichen?
“MI is a collaborative, goal-oriented style of communication with particular attention to the language of change. It is designed to strengthen personal motivation for and commitment to a specific goal by eliciting and exploring the person’s own reasons for change within an atmosphere of acceptance and compassion” (Miller & Rollnick, 2013, S. 29).
Diese aktuelle Definition von MI, formuliert von den Entwicklern der Methode, William Miller und Stephen Rollnick, fasst zusammen, was MI ist und zeigt so auch auf, was es nicht. MI ist ein kollaborativer, zielorientierter Gesprächsstil mit dem Ziel, die Eigenmotivation einer Person für eine Veränderung zu erhöhen.
B.1 MI ist kollaborativ
Menschen müssen ihre Veränderung selbst tragen und durchleben wollen – man hilft als unterstützende Expertin den Menschen nicht, wenn man für sie tut, was sie selbst tun können. Im MI unterhalten sich zwei Expertinnen auf Augenhöhe: eine Expertin, die Beraterin oder Trainerin, hat die fachliche, methodische und didaktische Kompetenz. Die andere Expertin, die Klientin, kennt ihre eigenen Wünsche, Ziele, Bedürfnisse, Stärken & Schwächen und bisher erfolgreiche & nicht erfolgreiche Strategien. MI begleitet in den Veränderungsprozessen und positioniert sich in der Anwendung zwischen einem Folgen, Sortieren und Bestärken (Zuhören) und zielorientiertem Anleiten (Edukation).
Wichtig herauszustellen: hier handelt es sich nicht um eine Art der Manipulation oder das Aufbauen einer Gegenposition. Es besteht nicht aus dem Geben von Anweisungen oder ungewollten Ratschlägen. Es ist eine Begegnung auf Augenhöhe.
B.2 MI ist zielorientiert
Das Ziel ist es, die Veränderungsbereitschaft einer Klientin zu einer bestimmten Veränderung zu erhöhen. Hierbei soll die innere Zerrissenheit aufgedeckt, beleuchtet und in der Folge aufgelöst werden. Die Klientin soll sich klarer darüber werden, was sie wirklich will. Soll eine, vielleicht anstrengende, Veränderung nun wirklich und mit zielstrebiger Sicherheit angegangen werden – oder ist die Veränderung doch nicht so wichtig wie vorher gedacht und es darf für diesen Moment so bleiben wie es ist?
Die Personenzentriertheit der Methode impliziert hier, dass die Trainerin die Veränderungsbereitschaft zwar beleuchtet und auflösen will, aber auch akzeptiert, wenn die Bereitschaft für genau diese Veränderung in diesem Moment nicht vorhanden ist.
B.3 MI will Eigenmotivation fördern
MI, aus Rogers‘ klientenzentrierter Tradition entstanden, hat ein positives Menschenbild. Die Veränderung steckt in den Menschen und will bloß hervorgelockt werden. Auf andere Art formuliert: Menschen sind nicht grundsätzlich unmotiviert.
Es ist weder personenzentriert noch löst es die Veränderung nachhaltig auf, wenn die Expertin von außen versucht, die Motivation in die Klientin zu pressen. Veränderung muss von innen heraus gelebt werden und so will MI auch die intrinsische Motivation fördern. Egal, ob Bewegung, Training, Schlaf oder Ernährung, die Expertin wird in der Regel nicht dabei sein, wenn sich die Klientin für oder gegen das Verhalten entscheidet – es ist klar, dass eine Änderung der Gewohnheiten tagtäglich eigenständig umgesetzt werden muss.
C. Die personenzentrierte Grundhaltung (Spirit)
Wie in der kurzen Einführung angesprochen, basiert MI vor allem auf seiner personenzentrierten, kollaborativen und direktiven Haltung, die Spirit genannt wird.
Dieser Spirit hat sich aus Carl Rogers‘ klientenzentrierten Psychotherapie entwickelt. Die Pfeiler sind also Partnerschaftlichkeit, Akzeptanz, Mitgefühl und Evokation.

Weil MI ein englischsprachiges Konzept der psychologischen Gesprächsführung ist, werden die Begriffe häufig zu englischen Akronymen gebastelt, um eine griffige Phrase zu erzeugen, die leicht zu merken ist. Der MI-Spirit besteht aus Partnerschaftlichkeit (P), Akzeptanz (A), Mitgefühl (C für Compassion) und Evokation (E) und kann sich so leichter als PACE gemerkt werden.
Diese Grundhaltung ist, nicht nur wie im Venn-Diagramm oben gezeigt, ein zentrales Element von MI. Nur durch das Einnehmen der Haltung mit allen ihren Aspekten wird es ein Expertinnengespräch auf Augenhöhe, die zu einer Veränderung einlädt.
D. Der “Spirit” im Zentrum
Die Techniken, die im folgenden Artikel besprochen werden, stellen zwar wichtige Grundlagen dar, sollten jedoch nur als Grundgerüst und Orientierungshilfe dienen. Auch ohne Expertin in allen Techniken und Prozessen zu sein, kann personenzentrierte Arbeit zumindest begonnen werden. Wer es einmal in der Praxis selbst erlebt hat, welchen Unterschied es macht, wenn man authentisch auf Augenhöhe personenzentriert agiert, weiß um die Effektivität der Methode. Menschen merken, wenn man Ihnen zuhört und kollaborativ mit ihnen arbeitet.
Literatur
- Miller & Rollnick. Motivational Interviewing. Helping People Change. 3rd Edition. (2013)
- Miller, Rollnick, Butler. Motivational Interviewing in Health Care: Helping Patients Change Behavior. (2008)
- Rollnick, Fader, Breckon, Moyers. Motivational Interviewing in Sports. Coaching Athletes to Be Their Best. (2020).
Eine primäre Recherche- und Leseempfehlung sind die Bücher von Miller & Rollnick selbst. Hier kann die Methode im Ganzen verzerrungsfrei (theoretisch) erfasst werden und reichhaltige Foot- oder Endnotes bündeln vorhandende Evidenzen.
Weiterführender Inhalt
Einen ersten Blick auf MI kann man im Interview mit Uli Gehring von GK Quest werfen.
Für Physiotherapeutinnen besonders interessant ist ein Interview mit Prof. Dr. Thomas Messner, der sich insbesondere mit MI in der Physiotherapie beschäftigt.
Etwas umfangreicher (1h 6min) ist der PhysioBib Podcast mit Prof. Dr. Thomas Messner, bei dem es auch um MI in der Physiotherapie geht.
Wer mehr über Motivational Interviewing lesen möchte, dem seien als Erstes die oben genannten Bücher von Miller & Rollnick ans Herz gelegt. Ein erster Blick in die Evidenz ist leicht via der Foot- und Endnotes möglich.
Wer tiefer in die wissenschaftliche Seite und Evidenz hinter der Methode einsteigen will, kann einen Blick in die angeführte Fachliteratur und in freizugängliche Primärquellen (etwa via PubMed oder Google Scholar werfen). Hierbei ist erwähnt, dass MI eine Methode ist und dann in vielen unterschiedlichen Kontexten untersucht wurde und wird, man also konkrete Fragestellungen, bei denen MI angewendet wurde, sucht. Es bietet sich also an, die eigene Fragestellung mit der Zielpopulation und den gewünschten Outcomes selbst zu recherchieren.
Beispielhaft finden sich einige Belege der höheren hierarchischen Ebenen hier:
- Rubak et al (2005). "Motivational interviewing: a systematic review and meta-analysis."
- Frost et al (2018) zur Wirksamkeit von MI als Intervention zur Verhaltensänderung bei Erwachsenen im Kontext von health und social care: ”Effectiveness of Motivational Interviewing on adult behaviour change in health and social care settings: A systematic review of reviews."
- Maslowski et al (2021) zur Wirksamkeit von MI im Kontext des Lernens: ”A systematic review and meta-analysis of motivational interviewing training effectiveness among students-in-training.”
- Armstrong et al (2011) zur Wirksamkeit von MI im Kontext der Gewichtsreduktion: "Motivational interviewing to improve weight loss in overweight and/or obese patients: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials."
MI als eine evidenzbasierte Methode zur Verhaltensänderung kann in vielen Kontexten und Populationen eingesetzt werden. Diese kurze und breite Auflistung soll einladen, konkrete Fragestellungen selbst zu recherchieren.
Für die weiteren Artikel dieser Serie ist anzumerken, dass nun die Methode “von Innen heraus” dargestellt wird, nachdem die grundsätzliche Wirksamkeit etabliert wurde. Es soll ein Hereinschnuppern in Motivational Interviewing ermöglichen und die Anwenderinnen motivieren sich auf die Methode, auf eine personenzentrierte Haltung und ihre Techniken einzulassen.
Interessenkonflikt
Der Autor, Simon Klug, unterrichtet MI an Fach- und Hochschulen und ist als Seminarleiter für MI tätig.