A. Gehirnerschütterung? Da spiele ich weiter!
Insbesondere in Sportarten wie Football, Boxen, aber auch in anderen Kontaktsportarten wie Eishockey kommt es immer wieder zu direkten oder indirekten Krafteinwirkungen auf den Kopfbereich, die zu einer leichten Gehirnerschütterung führen können. Offiziell zählt sie zu den Schädelhirntraumata, weshalb sie auch als leichtes Schädelhintrauma (SHT) bezeichnet wird oder unter dem Namen Commotio Cerebri bekannt ist.
Pro Jahr werden in Deutschland mehr als 44.000 Gehirnerschütterungen im Sport registriert, wobei Schätzungen zufolge die Dunkelziffer deutlich höher sein dürfte. Bei adäquater Behandlung verschwinden die Symptome bei einem Großteil der Sportlerinnen innerhalb einer Woche vollständig. In seltenen Fällen können auch weitreichendere Beschwerden bestehen bleiben, was auch das Beispiel von Benjamin Hübner verdeutlicht:
Der Innenverteidiger des TSG Hoffenheim erlitt, in Folge eines Treffers durch einen Ball am Kopf, eine Gehirnerschütterung, welche eine zusätzliche Funktionsstörung des Innenohres, sowie eine Sehstörung mit sich zog. Die Symptome blieben ungewöhnlich lange bestehen, sodass er für 14 Spiele aussetzen musste.

Einschneidende Beeinträchtigungen wie diese sind nur selten der Fall, dennoch besteht das Risiko eine Gehirnerschütterung zu bagatellisieren oder zu übersehen, sollten die Symptome sich weniger charakteristisch darstellen. Außerdem ist es möglich, dass sich Defizite der Konzentration und Aufmerksamkeit über Tage nach dem Ersttrauma einschleichen und auf diese Weise das Risiko einer erneuten Verletzung erhöhen. Beginnt die Sportlerin zu früh mit dem Wiedereinstieg in das Training, können dauerhafte Schädigungen der Hirnfunktion nicht ausgeschlossen werden.
Umso wichtiger ist es, nach einer Kopfverletzung die Sportlerin auf eine Gehirnerschütterung zu untersuchen und sie im Falle einer Commotio cerebri adäquat in den Sport zurückzuführen. Hierfür bieten unter anderem die FIFA und die NFL verschiedene Tools, welche in diesem Beitrag vorgestellt werden.
Die Forschungsgruppe um Gänsslen (2016) geht davon aus, dass Verbindungen zwischen Nervenzellen abreißen, sodass die einzelne Nervenzelle zwar noch funktioniert, die Interaktionen zwischen ihnen jedoch eingeschränkt oder verändert sein können. Die Folge können Kopfschmerzen, Übelkeit, Beeinträchtigungen neurologischer Funktionen, wie ein kurzer Bewusstseinsverlust von höchstens 30 Minuten oder einer posttraumatischen Amnesie für weniger als 24 Stunden sein. Ebenso können Bewusstseinsstörungen wie Verwirrung, Schwindel oder Orientierungslosigkeit auftreten. In der Bildgebung sind nur selten strukturelle Veränderungen sichtbar, andernfalls wird häufig von einem SHT 2. Grades gesprochen.
An dieser Stelle muss betont werden, dass eine Gehirnerschütterung nicht mit einem Bewusstseinsverlust oder Erbrechen einhergehen muss.
Persistieren in Folge eines leichten SHT die Symptome über drei Monate, wird von einem Postkommotionellen Syndrom gesprochen.
B. Wie erkenne ich eine Gehirnerschütterung?
Seitdem immer mehr Fälle von schwerwiegenden Hirnschädigungen nach wiederholten Gehirnerschütterungen im Football bekannt wurden, reagierte die NFL mit der „Concussion Game Day Checklist“. Das Pendant der FIFA ist das „Concussion Recognition Tool - Taschenkarte“. Weiterhin hat die VBG gemeinsam mit der Hannelore-Kohl-Stiftung die GET-App zur Erkennung von Gehirnerschütterungen entwickelt.
Die Tools funktionieren nach einem ähnlichen Prinzip: Das Verhalten der Sportlerin wird in mehreren Schritten auf Hinweise einer Gehirnerschütterung überprüft. Liegen ein oder mehrere der Zeichen vor, wird eine Gehirnerschütterung vermutet, woraufhin die Sportlerin sofort aus dem Spiel genommen werden muss. Zur weiteren Abklärung der Diagnose und Behandlung wird empfohlen, an medizinisches Fachpersonal zu überweisen.
- Im ersten Schritt wird die Sportlerin auf sichtbare Hinweise eines leichten SHT untersucht, diese können unter anderem verlangsamte Reaktionen, ein leerer oder ausdrucksloser Blick sowie häufiges an den Kopf fassen einschließen.
- Als zweiter Schritt werden Zeichen für eine mögliche Gehirnerschütterung erfasst. Symptome wie Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Reizbarkeit, Übelkeit oder Gedächtnislücken sind charakteristisch.
- Im letzten Schritt wird die Gedächtnisfunktion mittels Fragen über aktuelle Gegebenheiten wie dem Spielort oder vorherige Spielereignisse getestet.
Treten Warnzeichen wie Krampfanfälle, Schwäche oder Kribbeln in den Armen und Beinen, ein Bewusstseinsverlust auf oder besteht der Verdacht auf anderweitige Schädigungen der Halswirbelsäule, sollte sofort ein Notfalltransport organisiert werden.
C. Rehabilitation
C.1 Akutbehandlung
Besteht aufgrund der Untersuchung der Verdacht auf eine Gehirnerschütterung, sollte die Sportlerin in einen abgedunkelten Raum, mit leicht erhöhtem Kopf gelagert und kontinuierlich betreut werden. Dabei können kühlende Kompressen im Kopf- und Nackenbereich eine hilfreiche Erstmaßnahme darstellen. Weiterhin sollte die Nahrungszufuhr der Sportlerin bei einem schwerwiegenden Schädelhirntrauma weitestgehend eingestellt oder angemessen reduziert werden, um die Gefahr von Erbrechen und der Aspiration des Erbrochenen zu minimieren.
Verschlechtern sich die Symptome, sollte umgehend ein Arzt hinzugezogen werden, der mithilfe bildgebender Verfahren Schädigungen oder eventuelle Blutungen diagnostizieren kann und eine intensivmedizinische Versorgung einleiten kann.
Ein weiterer Grund, die Gehirnerschütterung ernst zu nehmen und eventuelle Ausfälle auf dem Spielfeld in Kauf zu nehmen, ist die gesteigerte Vulnerabilität des Gehirns direkt nach einer Gehirnerschütterung. Die auf diese Weise geminderte Widerstandsfähigkeit des Gehirns steigert das Risiko der Sportlerin, sich eine weitere Gehirnerschütterung zuzuziehen und damit einhergehend die Symptome zu verschlechtern sowie die Regeneration zu verlängern.

C.2 Return-to-Competition
Wurden schwerwiegende Verletzungen ausgeschlossen, sollte jede Sportlerin, welche eine Gehirnerschütterung erlitt, das sechsstufige Return-to-Competition-Programm der VBG durchlaufen. Die Progression in die nächste Stufe erfolgt erst bei kompletter Symptomfreiheit für mindestens 24 Stunden nach dem Training.
- In den ersten Tagen ist absolute Ruhe die beste Therapie. Das heißt auf äußere Reize wie Musik, Fernseher oder auch auf kognitive Anstrengungen ist zu verzichten.
- Sobald die Sportlerin in ihrem Alltag beschwerdefrei ist, darf sie mit leichtem aerobem Training beginnen. Hierfür eignet sich das Training für 15–20 Minuten auf dem Fahrradergometer. Aufgrund der Erschütterung während des Lauftrainings sollte von diesem abgesehen werden.
- In der dritten Stufe kann mit sportartspezifischen Intervalltraining begonnen werden. Das bedeutet, dass nach einem allgemeinen Aufwärmprogramm, erste Intervall-Belastungen getestet werden können, sowie Technik- und leichtes Krafttraining.
- Daraufhin erfolgt in der vierten Stufe der Wiedereinstieg in das normale Mannschaftstraining, allerdings vorerst ohne Körperkontakt.
- Bleibt die Sportlerin weiterhin symptomfrei, ist ein uneingeschränktes Training mit dem Team möglich.
- Erst wenn sie nach dem regulären Mannschaftstraining 24 Stunden beschwerdefrei bleibt, darf sie wieder an einem Wettkampf teilnehmen.
Infolgedessen sollte der frühste Zeitpunkt für den Wiedereinstieg in den Wettkampfsport erst nach 6 Tagen erfolgen.
Im Gegensatz dazu, bildet sich nach einer Verletzung im zentralen Nervensystem auch eine Verdickung, mit dem Unterschied, dass sich diese nicht weiter entwickelt.
Dennoch konnte die Untersuchung von Lovell (2007) zeigen, dass nach circa 35 Tagen die Abnormalitäten der Hirnfunktion, wie sie in Kapitel A beschrieben wurden, in den meisten Fällen nicht mehr vorzufinden waren. Auch Castile, (2012) fand heraus, dass die Symptome einer Gehirnerschütterung in 85 % der Fälle für circa eine Woche bestehen und 97 % der verletzten Sportlerinnen nach einem Monat symptomfrei sind. Obowohl die Nervenzellen des Gehirns nicht neu auswachsen, scheint das Gehirn regenerationsfähig zu sein.
D. Chronisch traumatische Enzephalopathie
Eine dramatische Folge von wiederholten Schädel-Hirn-Traumata kann eine chronisch-traumatische Enzephalopathie (CTE) sein.
Die CTE ist eine progressive neurodegenerative Erkrankung, hervorgerufen durch wiederholte Gehirnerschütterungen, wie sie primär im Boxen und Football vorkommen. Ihr werden unter anderem Gangstörungen, kognitive Einschränkungen, Pyramidenbahnpathologien, Depressionen, Aggressionen sowie Paranoia zugeschrieben.
Die endgültige Diagnose kann erst mittels einer Hirngewebsprobe während einer Obduktion erfolgen, weshalb die Anamnese und Symptome in den meisten Fällen erst post-mortem erhoben werden. Dementsprechend ist die Inzidenz bisher unzureichend geklärt. Allerdings beschreibt Gänsslen (2016) in seiner Arbeit eine Studie, welche 85 Autopsien von Sportlern mit Verdacht auf CTE analysiert. Dabei wurde in 20 % der Autopsien eine reine CTE diagnostiziert, während in 52 % neben der CTE auch zusätzliche Neuropathologien des Gehirns festgestellt werden konnten.
Darüber hinaus wurden in einer weiteren Untersuchung von NFL Spielern kognitive Einschränkungen (41,2%), „Mild Cognitiv Impairement“ (23,5%), Depressionen (23,5%) sowie kognitive Defizite (11,8%) ermittelt. Ferner konnte aufgedeckt werden, dass die meisten NFL-Sportler im Laufe ihrer Karriere 20 Schädelhirntraumata erleiden.
Das legt den Verdacht nahe, dass repetitive Gehirnerschütterungen neuropathologische Prozesse in Gang setzten und schwerwiegende Folgen mit sich ziehen können. Damit scheinen auch populäre Beispiele der NFL zu korrelieren.
- Philip Adams (1988 -2021) beging 2021 Suizid, nachdem er sechs Menschen getötet hatte. Bei seiner Autopsie wurde eine außergewöhnlich schwere CTE diagnostiziert.
- Der Tight End Spieler Aaron Hernandez der von 1990 bis 2017 lebte, wurde wegen Mordes verurteilt, und beging Suizid. Auch bei ihm wurde post mortem eine CTE diagnostiziert.
Abschließend kann nicht geklärt werden, ob ihr Schicksal nur aufgrund der Erkrankung seinen Lauf nahm. Jedoch geben die Zahlen, als auch die Beispiele, ein starkes Indiz für die weitreichenden Folgen, von wiederholten und unzureichend versorgten Gehirnerschütterungen.
E. Endspurt: Gehirnerschütterung
Im Gegensatz zu den offensichtlichen Kopfverletzungen wie Platzwunden oder Nasenbeinbrüchen, bleibt eine Gehirnerschütterung meist unentdeckt, jedoch mit teilweise weitreichenden Folgen.
Hierfür haben die FIFA und die NFL Tools entwickelt, welche bei der Identifizierung eines leichten Schädel-Hirn-Traumas helfen sollen. Sie funktionieren nach einem ähnlichen Prinzip, denn das medizinische Personal untersucht die Sportlerin anhand verschiedener Schritte auf Symptomen und Zeichen, die auf eine Gehirnerschütterung hinweisen. Gibt es bereits einen Hinweis auf eine Commotio cerebri, sollte die Sportlerin umgehend aus dem Spiel genommen werden.
Bei Bewusstseinsverlust, Krampfanfällen, Verschlechterung der Symptome oder bei Verdacht auf Schädigungen der Halswirbelsäule muss die Sportlerin direkt in ein Krankenhaus überwiesen werden.
In den ersten Tagen nach dem Ersttrauma sollte der Sportlerin absolute Ruhe ermöglicht werden, sodass sich die Nervenzellen von der Erschütterung erholen können. Erst bei kompletter Symptomfreiheit sollte sie mit einem Aufbautraining beginnen, der Zeitraum bis zum nächsten Spiel, sollte mindestens 6 Tage betragen.
In Kontaktsportarten wie Football, Boxen oder Eishockey ist die Inzidenz für leichte Schädel-Hirn-Traumata hoch und doch werden sie häufig von Sportlerinnen und Trainerinnen heruntergespielt. Erkrankungen wie die CTE verdeutlichen allerdings, dass man eine Gehirnerschütterung nicht bagatellisieren darf. Deswegen sollte im Zweifelsfall die Devise lauten: “When in Doubt, Take her out”.
Literatur
- Bundesinstitut für Sportwissenschaft (2015). Leichtes Schädelhirntrauma im Sport.
- Castile, (2012). „The epidemiology of new versus recurrent sports concussions among high school athletes, 2005-2010“
- Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie (2015). „Schädelhirntrauma im Erwachsenenalter. AWMF Leitlinie“
- Daneshvar (2012). „The Epidemiology of Sport-Related Concussion“
- Gänsslen (2016). „Gehirnerschütterung“
- Gänsslen (2016). „Chronisch Traumatische Enzephalopathie: Wie Sportverletzungen das Gehirn schädigen können
- Len (2011). „Cerebrovascular pathophysiology following mild traumatic brain injury“
- Lovell (2007). „Functional brain abnormalities are related to clinical recovery and time to return-to-play in athletes“
- VBG (2022). „Was tun bei Kopfverletzungen?“
- VBG (2022). „Comeback nach einer Gehirnerschütterung“
- VBG (2022). „Gehirnerschütterung schnell erkennen“
- Quatman-Yates (2020). „Physical Therapy Evaluation and Treatment After Concussion/Mild Traumatic Brain Injury“