A. Einleitung

Rückenschmerz ist die häufigste und teuerste muskuloskelettale Funktionsstörung der Welt. Insbesondere die verwendete Hebetechnik im Sport und Alltag wird traditionell als Risikofaktor für das Aufkommen oder Persistieren von Rückenschmerzen betrachtet. Trainerinnen empfehlen ihren Sportlerinnen und Patientinnen deshalb oftmals das „Aus den Beinen“-Heben mithilfe einer Kniebeuge-ähnlichen Technik. Mit dem vermehrten Einsatz der Beinmuskulatur im Gegensatz zur Beanspruchung des Rückens soll der vermeintlich falschen Hebetechnik und damit den Rückenschmerzen entgegengewirkt werden.

Zwar entfernt sich die Wissenschaft in den letzten Jahren zunehmend von pauschalen Technikempfehlungen, jedoch entsprang dieser Entwicklung in vielen Fällen nichts wirklich Nachhaltiges. So wird auf die Frage nach der optimalen Hebetechnik oftmals mit „Es kommt darauf an“ geantwortet, doch worauf kommt es eigentlich an und wie sehen Empfehlungen zur Hebetechnik aus, wenn pauschale Empfehlungen zu vermeiden sind?

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B. Hebetechnik und Rückenschmerzen

Verschiedene Techniken zum Heben schwerer Lasten lassen sich generell auf einem Kontinuum zwischen dem Heben aus dem Rücken und dem Heben aus den Beinen einordnen. Klassischerweise soll das Problem mit dem Heben aus dem Rücken darin bestehen, dass die biomechanisch-gegebenen Hebelverhältnisse in dieser Position eine erhöhte Belastung auf die Wirbelsäule ausübt. Diese erhöhte Belastung als Folge der verwendeten Hebetechnik soll dann ein Risikofaktor für das Auftreten von Rückenschmerzen darstellen. Trainerinnen weisen deshalb darauf hin, durch das Heben aus den Beinen in Form einer Kniebeuge eine vermeintlich schonendere Technik für den Rücken einzunehmen. Obwohl diese Argumentationskette gesellschaftlich weitverbreitet ist, zeigt die Wissenschaft inzwischen in eine andere Richtung.

So führt das vermeintlich optimale Heben aus den Beinen interessanterweise weder zur Prävention von Rückenschmerz, noch dazu, dass diese Rückenschmerzen weniger lange anhalten (Saraceni et al., 2021). Auch die oftmals diskreditierte Wirbelsäulenflexion beim Heben wird als wenig problematisch eingestuft (Washmuth et al., 2022). Inzwischen ließ sich durch Studien unter anderem durch die Nutzung von Sensorimplantaten innerhalb der Wirbelsäule sogar zeigen, dass die einwirkenden Kräfte beim Heben unabhängig der gewählten Technik hoch sind, mit lediglich marginalen Unterschieden zwischen den verwendeten Hebetechniken (von Arx et al., 2021 & Dreischarf et al., 2016). Außerdem ist fraglich, ob und in welchem Maße das Einhalten von „neutralen Positionen“ der Wirbelsäule ohne Flexionen beim Heben überhaupt möglich ist. Die Studienlage zeigt auf, dass eine statische Wirbelsäulenposition nicht alltagsnah ist, nicht aufrechterhalten werden kann und Flexionen der Lendenwirbelsäule beim Heben nur reduziert, nicht aber vollständig vermieden werden können (Aasa et al., 2019; Holder, 2013 & Howe & Lehman, 2021).

Abschließend ist eines der wohl entscheidenden Argumente gegen die pauschale Empfehlung einer bestimmten Hebetechnik, dass Personen mit bestehenden Rückenschmerzen in weiten Teilen bereits mit der vermeintlich optimalen Technik heben, nämlich aus den Beinen. Schmerzfreie Personen hingegen heben tendenziell eher aus dem Rücken, also der vermeintlich gefährlicheren Technik (Nolan et al., 2020). Dies entspricht also eigentlich einem genau gegenteiligen Befund zur traditionellen Annahme und den daraus getroffenen Empfehlungen.

Da es also nicht so scheint, als wäre der Zusammenhang zwischen der Hebetechnik und Rückenschmerzen haltbar, ist eine alternative Sichtweise angebracht. In einer solchen alternativen Sichtweise sollte zum einen grundsätzlich bedacht werden, dass es sich bei (Rücken-)Schmerzen um ein multifaktorielles Phänomen handelt. Zum anderen könnte argumentiert werden, dass es bei der Ausführung einer bestimmten Hebetechnik nicht darum gehen sollte, eine ständige Assoziation von Bewegungstechnik und Schmerz zu verfestigen bzw. eine einzelne Technik als schädlich darzustellen.

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Die Multifaktorialität der Schmerzwahrnehmung während einer bestimmten Hebetechnik lassen sich wohl am deutlichsten durch folgenden Hintergrund erläutern: Neben den traditionellen propagierten biomechanischen Erklärungsmodellen für Rückenschmerzen bei einer bestimmten Hebetechnik, welche wie bereits erläutert, wenig haltbar scheinen, kann auch die reine Narrative hinter diesen Modellen zu einer vermehrten Schmerzwahrnehmung führen. Wird einer Sportlerin beispielsweise über Jahre hinweg gelehrt, dass das Heben aus dem Rücken zu Schmerzen führe, so ist es wahrscheinlich, dass diese Sportlerin das Heben dieser Art tatsächlich irgendwann als unangenehm empfindet.

Anstelle dessen ist eine bestimmte Bewegungstechnik erst einmal nur eine Möglichkeit, eine vorliegende Bewegungsaufgabe zu lösen, also das Aufheben eines Objektes. Die Frage sollte also nicht sein: „Welche ist die optimale Hebetechnik?“, sondern: „Welche Bewegungstechnik erlaubt das optimale Lösen der vorliegenden Bewegungsaufgabe?

C. Konzept: „calm tissue down, build tissue up, improve work capacity”

Ein Konzept, welches die Aspekte „calm tissue down, build tissue up, improve work capacity” beinhaltet, wurde von Greg Lehman, einem kanadischen Physiotherapeuten eingeführt und soll basierend auf unterschiedlichen Intentionen dabei helfen, die situationsbedingte optimale Hebetechnik für ein Individuum zu finden (Washmuth et al., 2022). Das Ziel dieses Ansatzes ist es, sich davon zu entfernen, bestimmte Techniken und Bewegungen als schlecht darzustellen und anstatt dessen die Bewegungskapazitäten der Sportlerinnen in den Fokus zu stellen und diese zu optimieren. Diese optimierten Bewegungskapazitäten können dann im Sinne der Selbstorganisation das variable Einsetzen verschiedener Techniken zum Lösen einer Bewegungsaufgabe ermöglichen. Ein solcher Ansatz ist gerade für Trainerinnen interessant, da es ihnen ermöglicht, das so oft angebrachte „it depends“ einzugrenzen und dieses zumindest teilweise zu definieren. Hierfür sind die Rahmenbedingungen und Intentionen einer Bewegungslösung ausschlaggebend und richtungsweisend für die bewusste oder unbewusste Auswahl einer entsprechenden Bewegungstechnik.

Eine bestimmte Hebetechnik kann im Trainingskontext mit dem Ziel ausgeführt werden, beanspruchtes Gewebe zu beruhigen („calm tissue down“), Gewebe in seiner Belastungstoleranz zu erhöhen („build tissue up“) oder die Bewegungseffizienz zu steigern („improve work capacity“). Um diese drei Intentionen und damit eine optimale Technik in einem bewegungsbezogenen Kontext zu beeinflussen, können vier relevante Faktoren vorgestellt werden:

C.1 Metabolischer Einflussfaktor

Je nach Kontext kann es das Ziel einer Sportlerin sein, ein Objekt möglichst effizient hochzuheben, vor allem wenn dies wiederholt geschehen soll. Effizient bedeutet im Bewegungskontext, eine Bewegungsaufgabe mit einem möglichst geringen Energieverbrauch zu lösen. Als Beispiel könnte hier eine Sportlerin dienen, die in einem Crossfit-WOD eine bestimmte Anzahl an Deadlifts zu absolvieren hat. Für eine hohe metabolische Effizienz ist das rückendominante Heben dem kniedominanten vorzuziehen, weshalb diese Art des Hebens für die Sportlerin in unserem Beispiel ratsam sein könnte (Saraceni et al., 2021). Metabolische Einflussfaktoren erklären wahrscheinlich auch, wieso Lagerarbeiterinnen in der Industrie beim wiederholten Heben von Lasten hauptsächlich zum Heben aus dem Rücken tendieren (Saraceni et al., 2021). Sie können durch die Verwendung einer solchen Technik schlichtweg mit einem geringeren energetischen Aufwand und damit öfter eine bestimmte Last heben und bewegen.

C.2 Biomechanischer Einflussfaktor

Auch wenn die Belastung der Wirbelsäule nur marginal zwischen unterschiedlichen Hebetechniken abweicht, so stellt die Biomechanik dennoch einige Rahmenbedingungen für die Wahl der Bewegungstechnik dar. So scheint es, als würden Personen ihre Hebetechnik basierend auf dem zu hebenden Gewicht anpassen (Saraceni et al., 2021 & Sheppard et al., 2016). Diese Anpassung der Hebetechnik ist unter Umständen auf die individuelle Biomechanik zurückzuführen. In den meisten Fällen können leichte und mittlere Lasten noch problemlos über die kniedominante Hebetechnik bewältigt werden, während für maximale Lasten ein zunehmend höherer Hüft- und Rückeneinsatz nötig ist (Sheppard et al., 2016). Auch die subjektiv ausgewählte maximale Last eines Gegenstands erhöht sich mit zunehmendem Einsatz der Hüft- und Rückenmuskulatur (Washmuth et al., 2022). Außerdem zeigen Studien vereinzelt sogar, dass eine vermehrte Flexion der Lendenwirbelsäule während des Hebens größere Extensionskräfte ermöglicht, was wiederum die Maximalkraft verbessert (Mawston et al., 2021). Diese biomechanischen Einflussfaktoren beziehen sich bislang allerdings lediglich auf das Heben geringer Lasten (≈ 20 Kilogramm), weshalb die Ergebnisse keinesfalls unbedacht verallgemeinert werden sollten. In Bereichen mit höheren Lasten, wie sie oftmals im Krafttraining verwendet werden, sollte stets kontrolliert und bedacht gehandelt werden, um die biomechanischen Kapazitäten des Gewebes nicht zu überschreiten. Diese Gewebekapazitäten können durch ein progressives Training langfristig gesteigert werden und die physische Belastungstoleranz insofern erhöhen, als dass auch das Heben schwerer Lasten in verschiedenen Positionen der Lendenwirbelsäule toleriert werden kann.

C.3 Physische Belastungstoleranz

Entgegen der traditionellen Meinung, eine optimale Bewegungstechnik müsse die Belastung der Wirbelsäule möglichst gering halten, können metabolische und biomechanische Einflussfaktoren auf die Technik auch bewusst genutzt werden, um die Belastungstoleranz bestimmter Gewebe zu erhöhen. Trainerinnen können deshalb bestimmte Hebetechniken nutzen, um gezielt Adaptationen hervorzurufen. Mit einem solchen Hintergedanken kann auch ein Heben mit bewusst gebeugter Wirbelsäule sinnvoll sein, um bestimmte Strukturen spezifisch zu belasten und die Adaptationen dieser Strukturen zu fördern. Dies widerspricht zwar traditionellen Ansichten, kann auf individueller Basis jedoch sinnvoll sein, beispielsweise in bestimmten Phasen einer Rehabilitation (Washmuth et al., 2022). Wichtig ist bei einer solchen Art des Trainings jedoch, die Belastung stetig den Kapazitäten der Sportlerin anzupassen und die Belastungsnormative entsprechend zu wählen. Die Steigerung der Belastungskapazität sollte gerade für Personen mit Schmerzen zentral sein, da deren subjektives Schmerzempfinden beim wiederholten Heben von Lasten tendenziell zunehmend ansteigt, was mit einer vorzeitigen Ermüdung der belasteten Strukturen begründet werden kann (Saraceni et al., 2021).

C.4 Schmerzfaktor

Schmerz ist ein multifaktorielles und bio-psycho-soziales Phänomen. Trainerinnen sollten dies in der Auswahl von Übungen und Bewegungstechniken bedenken, da das aktuelle Schmerzempfinden einer Person maßgeblich die Intention einer Bewegungstechnik beeinflussen kann. Sollte es beispielsweise beim rückendominanten Heben zu Schmerzen kommen, so kann es unter Umständen sinnvoll sein, eine alternative Hebetechnik auszuwählen, um den bestehenden Schmerz nicht weiter zu provozieren. Nach einem Rückgang der Schmerzen wäre es dann aber wiederum sinnvoll, die Sportlerin erneut an die ursprüngliche Technik heranzuführen, um die dortige Belastungstoleranz zu steigern (siehe “Physische Belastungstoleranz”). Daher kann eine bestimmte Hebetechnik temporär nützlich sein, um dem akuten Schmerzempfinden eine Pause zu geben, andererseits kann eine Hebetechnik aber auch als gezieltes Training genutzt werden, um physische Belastungstoleranzen zu erhöhen.

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Ein ähnlicher Paradigmenwechsel ist auch in Bezug auf andere Körperregionen zu diskutieren. So wird in vielen Fällen beispielsweise bei der Kniebeuge noch das bewusste Abduzieren der Knie empfohlen, um eine Valgus-Position zu vermeiden, welche oft für Verletzungen der Kreuzbänder verantwortlich gemacht wird. Selbst wenn eine Sportlerin vermeintlich suboptimale Bewegungstechniken aufzeigt, so ist es wenig sinnvoll, dieser Sportlerin eine propagierte optimale Technik aufzuzwingen, da die bestehende Technik oftmals der Zusammenschluss vieler verschiedener Faktoren und Einflüsse ist und diese Technik möglicherweise bereits das individuelle Optimum in einem gegebenen Kontext darstellt.

D. Fazit

Die traditionelle Ansicht, dass das Heben mit einer vermeintlich falschen Technik zu Rückenschmerzen führt, ist nach aktueller Evidenz nicht haltbar. Bei Schmerzen jeglicher Art handelt es sich immer um ein Konglomerat aus verschiedenen Faktoren, welches nicht rein auf die Ausführung und Belastung einer bestimmten Bewegung zurückzuführen ist. Bestimmte Techniken für das Lösen einer Bewegungsaufgabe sind abhängig von der Intention, mit der diese ausgeführt werden, den vorhandenen Kapazitäten der Person und den situationsspezifischen Rahmenbedingungen, in denen diese sich befindet (Freiheit & Leitplanken). Außerdem ermöglicht eine bewusste Veränderung der genutzten Bewegungstechnik das Potenzial, spezifische Anpassungen hervorzurufen, was einen großen Anteil des hier vorgeschlagenen Paradigmenwechsels ausmacht:

Given there is currently no clear in-vivo evidence regarding the safest way to lift, it may be more helpful to focus less on the exact lifting technique and more about a person’s general health, strength and fitness, lifting efficiency and confidence to engage in […] lifting tasks“ (Saraceni et al., 2021)

Bisher untersuchten Studien verschiedene Hebetechniken lediglich bei sehr geringen Lasten, weshalb es schwerfällt, konkrete Empfehlungen für Belastungen zu geben, wie sie möglicherweise im Krafttraining auftreten. Angesichts dessen scheint es sinnvoll, sich für Hebetechniken im Krafttraining an einigen Grundsätzen zu orientieren. So sollten schwere Lasten zum einen mit einer Hebetechnik bewegt werden, welche an die individuellen Gegebenheiten der Sportlerin bzw. Patientin angepasst ist und zum anderen sollte das ruckartige Heben schwerer Lasten vermieden werden, da es hierdurch zu einer unnötigerweise erhöhten Belastung kommt (es sei denn, es handelt sich hierbei um das Trainingsziel). Zuletzt ist das Ausmaß der Belastungsunterschiede zwischen verschiedenen Hebetechniken auf Strukturen in und um die Wirbelsäule herum grundsätzlich nur in geringem Maße bedeutsam, sodass diesen Unterschieden keine außerordentliche Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.


Literatur

  1. Saraceni, Campbell, Kent, Ng, Straker & O’Sullivan, 2021, “Exploring lumbar and lower limb kinematics and kinetics for evidence that lifting technique is associated with LBP”
  2. Washmuth, McAfee & Bickel, 2022, “ Lifting Techniques: Why Are We Not Using Evidence To Optimize Movement?”
  3. Von Arx, Liechti, Connolly, Bangerter, Meier & Schmid, 2021, “From Stoop to Squat: A Comprehensive Analysis of Lumbar Loading Among Different Lifting Styles”
  4. Dreischarf, Kohlmann, Graichen, Bergmann & Schmidt, 2016, “In vivo loads on a vertebral body replacement during different lifting techniques”
  5. Aasa, Bengtsson, Berglund & Öhberg, 2019, “Variability of lumbar spinal alignment among power- and weightlifters during the deadlift and barbell back squat”
  6. Holder, L., 2013, “The Effect of Lumbar Posture and Pelvis Fixation on Back Extensor Torque and Paravertebral Muscle Activation. Auckland: University of Technology” (Master-Thesis)
  7. Howe & Lehmann, “Getting out of neutral: the risks and rewards of lumbar spine flexion during lifting exercises”
  8. Nolan, O’Sullivan, Newton, Singh & Smith, 2020, “Are there differences in lifting technique between those with and without low back pain? A systematic review
  9. Sheppard, Stevenson & Graham, 2016, “Sex-based differences in lifting technique under increasing load conditions: A principal component analysis”
  10. Mawston, Holder, O’Sullivan & Boocock, 2021, “Flexed lumbar spine postures are associated with greater strength and efficiency than lordotic postures during a maximal lift in pain-free individuals”
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