Text: Selina Eckhardt | Sparring: Judith Begiebing | Korrektorat: Elisa Köhler | Stimme: Friederike Niermann |
- Die Hauptbereiche des Lernens umfassen die Bezugswissenschaften als Basis, interne und externe Bedingungen, welche das Lernen selbst beeinflussen beziehungsweise daran beteiligt sind sowie mögliche Anwendungsbereiche
- Lernen beinhaltet die drei Dimensionen Inhalt, Antrieb und Interaktion
- Die Dimensionen des Lernens werden durch zwei Basisprozesse verbunden: der externe Interaktionsprozess findet zwischen Individuum und Umwelt statt und initiiert den interneren Aneignungsprozess, welcher durch ein Zusammenspiel der Dimensionen Inhalt und Anreiz charakterisiert ist
A. Hintergrund und Grundannahmen
Bevor es in den folgenden Kapiteln um das Gehirn als individuellen Aspekt des Lernprozesses gehen wird, behandelt dieser Artikel ein grundlegendes Verständnis davon, wie Lernen als ganzheitlicher Prozess stattfindet. Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden verschiedenste Ideen und Theorien veröffentlicht, die veranschaulichen sollen, wie Lernen im Detail funktioniert (oder funktionieren könnte). Sie griffen dabei auf viele unterschiedliche Blickwinkel und erkenntnistheoretische Annahmen zurück. Die Ideen wurden teilweise durch neues Wissen und neue Standards ergänzt, überholt oder gar neue theoretische Herangehensweisen entwickelt. Vor diesem Hintergrund existieren mittlerweile viele verschiedene Konstrukte zum Thema Lernen, die mehr oder weniger miteinander kompatibel sind. Der dänische Forscher Knud Illeris hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf dieser breiten Selektion von Ansätzen aufzubauen und ein übergreifendes Framework zu entwickeln. Die schon im letzten Artikel angesprochene Definition:
“Learning can broadly be defined as any process that in living organisms lead to permanent capacity change and which is not solely due to biological maturation or ageing” (Knud Illeris, 2007)
illustriert seinen Anspruch, einen generellen und aktuellen Überblick über das gesamte Forschungsfeld zu geben. Ihm ist es wichtig, alle umfassenden und komplizierten Prozesse in einem Modell zusammenzuführen, die für das Verständnis von Lernen eine Rolle spielen. Hierzu ist für ihn nicht nur das Verstehen des Lernprozesses selbst von Bedeutung, sondern auch alle Gegebenheiten, die den Prozess beeinflussen und davon beeinflusst werden.


In der Grafik sind die fünf Hauptbereiche für das Verstehen des Lernprozesses dargestellt.
- BASIS: die Bezugswissenschaften, die sich hauptsächlich mit dem Thema beschäftigen.
- LEARNING: Lernen an sich, inklusive der Prozesse, Dimensionen, verschiedenen Lerntypen und Barrieren, die Illeris in seinen Arbeiten genauer ausführt.
- INTERNAL AND EXTERNAL CONDITIONS: jeweils die externen und internen Voraussetzungen, die das Lernen nicht nur beeinflussen, sondern unmittelbar daran beteiligt sind.
- APPLICATION: mögliche Anwendungsbereiche, die auch eine Rolle spielen.
Im Folgenden wird nun näher auf die Leitgedanken von Illeris’ Verständnis, und zwar die Basisprozesse und Dimension des Lernens eingegangen.
B. Basisprozesse: Der Interaktions- und Aneignungsprozess
Lernen beinhaltet immer die Integration zweier unterschiedlicher Prozesse: einen externen Interaktionsprozess zwischen der Lernenden und ihrer sozialen, kulturellen oder materiellen Umwelt und einen internen, kognitiven Prozess des Erwerbs und Einbauens neuer, in bestehende Wissensstrukturen. Viele Lerntheorien beschäftigen sich nur mit einem dieser Prozesse, was nicht bedeutet, dass sie falsch sind, sondern lediglich unvollständig. Zu Forschungs- oder Erklärungszwecken kann es sinnvoll sein, Prozesse getrennt voneinander zu betrachten. Schlussendlich darf aber nicht vergessen werden, dass insbesondere in der praktischen Arbeit beide Prozesse aktiv beteiligt sein müssen, um Lernen zu ermöglichen. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass der Interaktionsprozess vom sozialen und materiellen Charakter der Umgebung abhängt. Strukturiertes Lernen wie in der Schule hat vor 100 oder 1000 Jahren wahrscheinlich noch komplett anders stattgefunden als heute und variiert auch weiterhin beispielsweise je nach Region und Kultur. Der Aneignungsprozess hingegen ist eher biologischer Natur und wurde über Millionen von Jahren geformt. Das zentrale Nervensystem und große Gehirn bieten Menschen einige spezielle Lernmöglichkeiten, die sie von anderen Spezies unterscheiden. Zusammen eröffnen sie eine Reihe an Möglichkeiten und Gegebenheiten, die jeweils enorm vielfältig sind und einen grenzenlosen und unendlichen Rahmen zum Lernen schaffen. Die Interaktion der beiden Prozesse versucht Illeris in folgendem Model darzustellen:

Der externe Interaktionsprozess (interaction) wird als vertikaler Doppelpfeil zwischen der Umwelt (environment) und dem Individuum (individual) verbildlicht. Er soll bedeuten, dass beide Funktionen immer beteiligt sind, und zwar meist in einer integrierten Art und Weise. Die Umwelt ist die generelle Basis und deshalb unten platziert. Das Individuum als spezifische Lernende steht darüber. Der interne Aneignungsprozess (aquisition) wird ebenfalls als Doppelpfeil dargestellt. Als interner Prozess der Lernenden ist er über dem Interaktionsprozess platziert. Außerdem handelt es sich dabei um einen Prozess des integrierten Zusammenspiels zwischen zwei gleichwertigen psychologischen Funktionen, die beim Lernen immer eine Rolle spielen: die Verwaltung der Lerninhalte und die Anreizfunktion des Bereitstellens und Verteilens der notwendigen mentalen Energie, die den Prozess am Laufen hält. Deshalb ist der Doppelpfeil horizontal oben, auf dem Interaktionsprozess, zwischen den Polen Inhalte (content) und Anreiz (incentive), platziert.
C. Die drei Dimensionen von Lernen
Die beiden Doppelpfeile in der obigen Grafik spannen ein trianguläres Feld zwischen drei Ecken auf, die drei Dimensionen des Lernens darstellen sollen. Es ist der Kernanspruch von Illeris Verständnis, dass beim Lernen immer alle drei Dimensionen beteiligt sind.

Die Inhaltsfunktion (links oben) beschäftigt sich damit, was gelernt wird. Gewöhnlich wird das als Wissen und Fähigkeiten beschrieben, aber es können zum Beispiel auch Meinungen, Erfahrungen, Bedeutungen, Einstellungen, Werte, Verhaltensarten, Methoden, Strategien etc. als Lerninhalte beteiligt sein. Sie können zur Konstruktion des Verständnisses und den Kapazitäten der Lernenden beitragen. Ihr Bestreben besteht darin, Bedeutung und Können zu konstruieren, um mit den Herausforderungen des täglichen Lebens umgehen zu können. Damit wird eine persönliche Funktionalität entwickelt.
Die Anreizfunktion (rechts oben) stellt die mentale und körperliche Energie bereit und leitet sie dorthin, wo sie nötig ist, um Lernprozesse stattfinden zu lassen. Sie umfasst Elemente wie das Fühlen von Emotionen, Motivation und Volition. Ihre ultimative Funktion ist, die kontinuierliche mentale Balance der Lernenden sicherzustellen. Unsicherheit, Neugierde oder unerfüllte Bedürfnisse können ursächlich für das Suchen nach neuem Wissen oder neuen Fähigkeiten sein, um die Balance wiederherzustellen. Währenddessen wird gleichzeitig eine persönliche Sensibilität hinsichtlich des Selbst und der Umwelt entwickelt. Sensibilität meint in diesem Zusammenhang die Empfindlichkeit gegenüber Lernimpulsen. Bei der einen Person, kann bereits ein kleiner Reiz einen Lernprozess auslösen, für den eine andere Person einen viel größeren Reiz benötigt.
Beide Dimensionen werden immer von Impulsen aus den Interaktionsprozessen initiiert und in den internen Prozess der Aneignung integriert. Der Lerninhalt ist immer abhängig von den Anreizen, die auf dem Spiel stehen, beispielsweise ob das Lernen von Wollen, Interesse, Notwendigkeit oder Zwang getrieben ist. Dementsprechend sind die Anreize auch immer vom Inhalt beeinflusst, so kann etwa eine neue Information die Anreizfunktion verändern.
Die Interaktionsdimension (mitte unten) gibt Impulse oder Stimuli, die den Lernprozess in Gang setzen. Das kann zum Beispiel als Wahrnehmung, Übertragung, Erfahrung, Imitation, Aktivität, Partizipation etc. stattfinden. Das dient dem Zweck der persönlichen Integration in Gemeinschaften und die Gesellschaft. Dabei bildet sich auch die Geselligkeit der Lernenden heraus, was wiederum notwendigerweise durch die beiden anderen Dimensionen stattfindet.
Das Dreieck verbildlicht somit etwas, das allgemein als Spannungsfeld des Lernens bezeichnet werden kann. Oder als jegliches spezifisches Lernereignis oder jeglicher Lernprozess, der zwischen der Entwicklung von Funktionalität, Sensibilität und Geselligkeit ausgebreitet wird. Dabei handelt es sich nebenbei auch um die generellen Komponenten davon, was unter dem Begriff Kompetenzen verstanden wird. Wie nun schon öfter betont, ist abschließend wichtig zu erwähnen, dass alle Dimensionen sowohl mentale als auch körperliche Komponenten einschließen.
D. Ein Alltagsbeispiel
Die Therapie oder Trainingseinheit stellt einen typischen Interaktionsprozess dar. Eine Therapeutin oder Trainerin erklärt einen Bewegungsablauf. Im Gegenzug soll die Klientin zuhören und eventuell Fragen stellen, um sicherzugehen, dass sie die Erklärung richtig verstanden hat. Gleichzeitig soll sie das Gesagte erfassen und einen Zusammenhang zwischen den neuen Informationen und bereits vorhandenem Wissen herstellen. Im Idealfall soll sie fähig sein, sich das neu Gelernte zu merken und unter bestimmten Bedingungen zu reproduzieren, anzuwenden und es mit späteren neuen Lerninhalten zu verbinden.
Allerdings findet dieser Prozess in manchen Fällen nicht wie intendiert statt, weshalb Fehler oder Abweichungen in unterschiedlicher Art und Weise auftreten können. Hierfür können missverständliche Erklärungsweisen, anderweitige Störquellen in der Situation oder unterschiedliche Konstrukte von Begriffen ursächlich sein. Daraus folgt beispielsweise nur ein teilweises oder inkorrektes Merken der neuen Information und das Lernergebnis bleibt mangelhaft. Genauso kann aber auch der Aneignungsprozess der Klientin unzureichend sein. Zum Beispiel durch Konzentrationsschwierigkeiten oder Müdigkeit. Außerdem könnten ihr infolge von mangelnder Erfahrung im Sport grundsätzliche Voraussetzungen fehlen, um beispielsweise erklärte Bewegungsmuster zu verstehen. Diese Probleme im Aneignungsprozess zeigen auch, dass er kein rein kognitiver Vorgang ist. Es ist eine andere Funktionsebene beteiligt, die die Einstellung der Klientin, sowie ihre Interessen und die Mobilisation der erforderlichen mentalen Energie betrifft. Die Anreizdimension betreffend, spielt es zudem eine Rolle, wie die Situation wahrgenommen wird. Welche Gefühle und Motivationen sind beteiligt und wie wird die mentale Energie wiederum davon beeinflusst? Der Wert und die Nachhaltigkeit des Lernergebnisses steht in einer engen Verbindung zur Anreizdimension.
Zuletzt hängen sowohl die Inhalte als auch der Anreiz entscheidend vom Interaktionsprozess zwischen der Trainerin/Therapeutin und der Klientin sowie von der sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen und materiellen Umgebung ab. Ist die Interaktion in der Therapie oder Trainingseinheit nicht passend oder angenehm, kann das Lernen auf verschiedene Arten negativ beeinflusst werden. Zum Beispiel sorgt so ein schlechter Eindruck der Trainerin, generell des Therapiekontexts oder von Sport im Allgemeinen für ein unzureichendes Lernergebnis.
Die Komplexität und Vielschichtigkeit des Lernprozesses muss auch im Trainings- und Praxisalltag Berücksichtigung finden. Lernen ist nicht nur die bloße Aneignung von Wissen, es umfasst ebenso die Interaktion zwischen Individuum und Umwelt. Um ein optimales Lernergebnis zu erzielen, darf der Fokus also nicht ausschließlich auf dem Lerninhalt liegen, auch müssen die psychologischen Voraussetzungen hinsichtlich Motivation und Volition bei der Lernenden vorhanden sein. Darüber hinaus sollte eine förderliche Interaktion zwischen Umwelt - zu der auch die Trainerin oder Therapeutin gehört - und Sportlerin bestehen, welche den Anstoß zum Lernen bietet.
Literatur
- Illeris, K. (2007). How we learn: Learning and non-learning in school and beyond. ISBN 0-203-93989-1.Miller & Rollnick. Motivational Interviewing. Helping People Change. 3rd Edition. (2013)