Motivational Interviewing 3:

Grundtechniken

A. Einladung in das Gespräch

In diesem Text soll es nun um die Grundtechniken gehen, die im MI verwendet werden. Sie werden Grund- oder Basistechniken genannt, weil sie die handwerkliche Grundlage dieses Gesprächsstils darstellen. Sie erfüllen zwar jeweils unterschiedliche Zwecke, dennoch geht es hier insgesamt darum, den anderen einzuladen, am Gespräch teilzunehmen, sich zu erkunden und einzubringen (Selbstexploration und Selbstoffenbarung).

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Motivational Interviewing 3: Grundtechniken
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B. Die Grundtechniken OARS (I)

Diese Grundtechniken können als Akronym OARS (englisch für Ruder) abgekürzt werden. O steht für das Stellen „offener Fragen“, A für das „Affirmieren“ oder „Wertschätzung und Würdigung“ des anderen, R für „reflektierendes“ oder „aktives Zuhören“ und S für „Zusammenfassungen“. In den neueren Versionen von MI werden die klassischen OARS um das I des „Informieren und Rat anbieten“ ergänzt.

O – open-ended questions – das Stellen offener Fragen

Geschlossene Fragen, die mit „Ja“ und „Nein“ schnell beantwortet werden, sorgen nicht nur für einen unangenehmen Gesprächsfluss mit häufig ausfragendem Charakter, der ein hierarchisches Gefälle etabliert, sondern stehen auch dem Prozess der Selbstexploration im Weg.

Gute offene Fragen laden den anderen dazu ein, sich aktiv ins Gespräch einzubringen. Das ist einerseits notwendig, weil die andere Person Expertin für die eigenen Probleme und Lösungen ist, aber auch, weil nur so die Beraterin empathisch sein kann. Empathie, beschreibt die Fähigkeit, die Welt aus den Augen anderer zu sehen. Bei Rogers‘ ist empathisches Verhalten das „in die Rolle des anderen hineinversetzen, als ob es die eigene wäre“. Durch die Antworten auf gute offene Fragen lernt die Beraterin die Welt aus den Augen der Klientin kennen.

Geschlossene Fragen Offene Fragen
“Sind die Schmerzen auszuhalten?” “Was führt Dich zu mir?”
“Macht Dir das Beugen Probleme oder das Strecken?” “Wie geht es Dir damit?”
“Bist Du damit einverstanden?” “Wie würdest Du das Problem angehen?”

A – affirmations – Akzeptieren, Validieren, Wertschätzen & Würdigen

Das Wertschätzen und Würdigen beschreibt den Umgang aus einem positiven Menschenbild heraus: Die Klientin und ihre Ressourcen sollen wertgeschätzt werden. Für ihre Stärken, die sie vielleicht selbst nicht erkennt, oder für ihre geleisteten Anstrengungen soll die Klientin gewürdigt werden.

Das Aufnehmen von Affirmationen in die Grundtechniken zeigt, dass allein das Leben des Spirits, das Agieren aus einer personenzentrierten Grundhaltung heraus, Technik von MI sein kann. Die Klientin erfährt den Spirit, in dem mit ihr wertschätzend umgegangen wird.

Für das Arbeiten in personenzentrierten Kontexten ist es wichtig zu verstehen, dass Würdigung und Lob nicht dasselbe sind. „Gelobt wird von oben herab“ – das Aussprechen von Lob kann ebenfalls eine Asymmetrie in der Kommunikation, ein hierarchisches Gefälle zwischen Expertin und Laie erzeugen.

R – reflective listening – aktives Zuhören

Sowohl für Rogers‘ klientenzentrierte Psychotherapie als auch für MI, ist das aktive Zuhören vermutlich die wichtigste Technik. Aktives Zuhören wiederholt die Aussagen der Klientinnen, und gibt ihnen so Gelegenheit, die selbst ausgesprochenen Worte erneut zu hören. Es reflektiert oder spiegelt dabei den Klientinnen zurück, was sie gesagt haben – und welche Gedanken, Empfindungen und Intentionen in den eigenen Aussagen stecken. Diese Reflexion können die Klientinnen dann bejahen und bestärken („Ja, genau das meine ich.“) oder ablehnen („Nein, eigentlich geht es mir eher um …“). Dieser Prozess beleuchtet die innere Zerrissenheit und kann von der Beraterin in Richtung Auflösung der Ambivalenz geführt werden.

Auf das Stellen von Fragen wird hier verzichtet, weil dies die Klientinnen in eine defensive Haltung drängen könnte, in der sie sich rechtfertigen wollen.

Miller und Rollnick unterscheiden hier einfache und komplexe Reflexionen. Einfaches aktives Zuhören entspricht einem Paraphrasieren, dem fast unveränderten Zurückspielen des Gesagten.

Das komplexe aktive Zuhören ist die hohe Kunst und das Kernstück von MI: hier soll dem anderen „aus dem Herzen gesprochen“ werden. Die zugrundeliegenden Emotionen und Motive werden beleuchtet und sanft zutage gefördert. Es können bestimmte Themen in den Mittelpunkt gestellt werden, um dann von der Klientin bejaht oder verneint zu werden.

Beispielhafte Aussage, der zugehört werden kann:  
„Ich glaube, diese Übung ist nichts für mich.“

Nicht Zuhören

  • „Es ist schon wichtig, dass Du diese Übung machst. Du musst auch an Deinen Schwachstellen arbeiten.“
  • „Die meisten Leute haben Schwierigkeiten mit dieser Übung, aber wenn man länger am Ball bleibt, dann wird das schon.“
  • „Du kannst ja für den Anfang das Gewicht reduzieren.“

Einfaches aktives Zuhören

  • „Diese Übung ist nichts für Dich.“

Komplexes aktives Zuhören

  • „Dir ist diese Übung zu schwer. Du hast Angst, dass Du Dir wehtust, wenn Du die Übung weitermachst.“
  • „Diese Übung bringt Dich Deinen Zielen nicht näher und Du verschwendest damit Deine Zeit.“
  • „Du hast schon schlechte Erfahrungen mit der Übung gemacht und würdest lieber in eine andere Richtung gehen.“

Gutes aktives Zuhören fördert Selbstexploration und Selbstoffenbarung und vermittelt den Spirit von MI: Die Klientin erhält das Gefühl, dass ihr wirklich zugehört wird und die Beraterin sie wirklich versteht. Die Beraterin will die Klientin verstehen und mit ihr gemeinsam erkunden. Sie hört nicht zu, um zu antworten. Gutes Zuhören ist ein Angebot, das angenommen oder abgelehnt werden kann. Wenn die Reflexion zu interpretativ war oder in die falsche Richtung ging, dann ist die Beziehung zwischen beiden Expertinnen stabil genug (siehe Prozess: Engaging), sodass die Klientin die Trainerin korrigiert und selbst erklärt, wohin die Reise gehen sollte.

S – summarize – Zusammenfassen

Die Zusammenfassung ist eine besondere Form des aktiven Zuhörens. Weil Selbstexploration nicht immer einfach ist und die geäußerten Gedanken auch nicht immer greifbar bleiben, fasst die Beraterin die Gedankengänge zusammen und präsentiert die Zusammenfassung der Klientin. Der Fokus liegt auch hierbei auf einer Betonung der Veränderung: wenn die Klientin change talk geäußert hat, wird er ihr bei der Zusammenfassung noch einmal gebündelt, geordnet, strukturiert und schmackhaft präsentiert.

Gute Zusammenfassungen bündeln, je nach Schwerpunktsetzung, die Themen wie aus einem Guss. Eine übersichtliche Darstellung über das Gesagte muss im Idealfall von der Klientin bloß noch abgenickt werden – es soll ein Blick auf das große Ganze erzeugt werden, der nicht durch kleine Details verbaut ist. Zielsetzung: Sammeln, Verbinden, Überleiten.

I – inform – Informieren und Rat anbieten

Das Informieren und Rat anbieten steht im scheinbaren Widerspruch zum personenzentrierten Spirit von MI. Weil Rat von oben kommt, die Beraterin in die Expertenfalle tappen kann und die Edukation aber gleichzeitig immer zum Aufgabenbereich von Expertinnen gehört, wird dem Thema „klientenzentrierte Edukation“ ein eigener Artikel gewidmet.

C. Take-Away

Ohne die personenzentrierte Grundhaltung sind die Techniken allein nicht ausreichend, um ein Motivational Interviewing erfolgreich durchzuführen. Dieser Spirit wird zudem nur dann besonders wertvoll und effektiv für eine Verhaltensänderung, wenn er auch bei der Gesprächspartnerin ankommt. Und das wird durch den geschulten Einsatz der Techniken unterstützt. Die Techniken sind als Transmitter der eigenen Haltung zu verstehen. Sie sorgen dafür, dass der Spirit beim anderen ankommt. Sie sind technisches Grundgerüst dieses personenzentrierten Gesprächsstils. Im MI-Gespräch ist es grundsätzlich förderlich, mehr zuzuhören, als selbst zu sprechen.


Literatur

  1. Miller & Rollnick. Motivational Interviewing. Helping People Change. 3rd Edition. (2013)
  2. Miller, Rollnick, Butler. Motivational Interviewing in Health Care: Helping Patients Change Behavior. (2008)
  3. Rollnick, Fader, Breckon, Moyers. Motivational Interviewing in Sports. Coaching Athletes to Be Their Best. (2020).

Eine primäre Recherche- und Leseempfehlung sind die Bücher von Miller & Rollnick selbst. Hier kann die Methode im Ganzen verzerrungsfrei (theoretisch) erfasst werden und reichhaltige Foot- oder Endnotes bündeln vorhandende Evidenzen.

Weiterführender Inhalt

Einen ersten Blick auf MI kann man im Interview mit Uli Gehring von GK Quest werfen.

Für Physiotherapeutinnen besonders interessant ist ein Interview mit Prof. Dr. Thomas Messner, der sich insbesondere mit MI in der Physiotherapie beschäftigt.

Etwas umfangreicher (1h 6min) ist der PhysioBib Podcast mit Prof. Dr. Thomas Messner, bei dem es auch um MI in der Physiotherapie geht.

Wer Motivational Interviewing als Präsenzkurs oder in der Onlinevariante bei Thomas Messner erleben möchte, wird bei BEST fündig. Angeboten wird zurzeit ein Grundkurs, der sich vor allem an Therapeutinnen und Trainerinnen richtet.

Wer mehr über Motivational Interviewing lesen möchte, dem seien als Erstes die oben genannten Bücher von Miller & Rollnick ans Herz gelegt. Ein erster Blick in die Evidenz ist leicht via der Foot- und Endnotes möglich.

Wer tiefer in die wissenschaftliche Seite und Evidenz hinter der Methode einsteigen will, kann einen Blick in die angeführte Fachliteratur und in freizugängliche Primärquellen (etwa via PubMed oder Google Scholar werfen). Hierbei ist erwähnt, dass MI eine Methode ist und dann in vielen unterschiedlichen Kontexten untersucht wurde und wird, man also konkrete Fragestellungen, bei denen MI angewendet wurde, sucht. Es bietet sich also an, die eigene Fragestellung mit der Zielpopulation und den gewünschten Outcomes selbst zu recherchieren.

Beispielhaft finden sich einige Belege der höheren hierarchischen Ebenen hier:

MI als eine evidenzbasierte Methode zur Verhaltensänderung kann in vielen Kontexten und Populationen eingesetzt werden. Diese kurze und breite Auflistung soll einladen, konkrete Fragestellungen selbst zu recherchieren.

Für die weiteren Artikel dieser Serie ist anzumerken, dass nun die Methode “von Innen heraus” dargestellt wird, nachdem die grundsätzliche Wirksamkeit etabliert wurde. Es soll ein Hereinschnuppern in Motivational Interviewing ermöglichen und die Anwenderinnen motivieren sich auf die Methode, auf eine personenzentrierte Haltung und ihre Techniken einzulassen. Außerdem können die Texte vielleicht als kleines Nachschlagewerk dienen, die die Anwendung erleichtern.

Interessenkonflikt

Der Autor, Simon Klug, unterrichtet MI an Fach- und Hochschulen und ist als Seminarleiter für MI tätig.

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