Text: Judith Begiebing | Sparring: Leon Cassian Hammer | Korrektorat: Pat Preilowski | Stimme: Friederike Niermann |

A. Was ist Neuroathletiktraining?
Bekanntheit erlangte das Neuroathletiktraining (NAT) in Deutschland vor allem durch Lars Lienhard, welcher diese Methodik unter anderem mit der deutschen Fußballnationalmannschaft anwendete. Neuroathletiktraining ist ein neurozentrierter Ansatz, der auf dem Curriculum von Z-Health beruht, welches sich die aus der Chiropraktik stammende funktionelle Neurologie zunutze macht. Im Mittelpunkt des NAT steht das Gehirn als bewegungssteuerndes und -ausführendes System. Ziel ist die Optimierung der Leistungsfähigkeit und/ oder Schmerzreduktion durch Identifikation und anschließendes Trainieren von Funktionseinschränkungen des zentralen Nervensystems. Grundannahme ist also die Verantwortlichkeit bestimmter Gehirnbereiche für Leistungseinschränkungen oder Schmerzen und die Beeinflussbarkeit dieser Areale durch spezielle Übungen, welche sich auf das Prinzip der Neuroplastizität stützen.
B. Funktionelle Neurologie als Ursprung des Neuroathletiktrainings
Die funktionelle Neurologie ist eine Strömung innerhalb der Chiropraktik, welche als Variante des ursprünglichen Subluxationsmodells vertebrale Subluxationen durch „physiologische Läsionen“ des Gehirns ersetzt (Meyer et al., 2017). Ihren Ursprung findet die funktionelle Neurologie in einem Experiment von Carrick (1997), in dem eine zervikale Manipulation zu einer Verkleinerung des blinden Flecks im Auge zu führen schien. Die Ergebnisse wurden als Bestätigung für die Hypothese einer veränderbaren Gehirnaktivität durch eine spinale Manipulation gedeutet.
B.1 Neurophysiologische Theorien der funktionellen Neurologie
„Physiologische Läsionen“, auch „funktionelle Läsionen“ genannt, sollen funktionelle Anomalien des zentralen Nervensystems (insbesondere des Gehirns) bezeichnen und die Ursache verschiedenster Symptome, Erkrankungen und Einschränkungen sein (Meyer et al., 2017). Zu unterscheiden sind diese der funktionellen Neurologie zufolge von ablativen oder organischen Pathologien, auch wenn ähnliche Symptome auftreten können. Aufgrund der neuroplastischen Eigenschaften des Nervensystems sollen funktionelle Läsionen reversibel sein.
B.1.1 Zelluläre Ebene
Grundprinzip der funktionellen Neurologie ist ein dysfunktionaler „Central integrated state (CIS)“ auf zellulärer Ebene. Der CIS bezieht sich auf die Fähigkeit eines Neurons, aktivierende und hemmende Einflüsse zu integrieren und basierend darauf zu „feuern“ (Margach, 2017). „Funktionelle Läsionen“ bezeichnen damit eine Gruppe von Neuronen mit einem funktional abträglichen CIS (Meyer et al. 2017). Dieser soll zu einer veränderten Kommunikation innerhalb des zentralen Nervensystems mit hyper- oder hypofunktionalen Gehirnbereichen führen, die eine abnorme Anzahl an Outputs generieren würden und motorische, sensorische, viszerale oder kognitive Symptome zur Folge hätten. Von großer Bedeutung ist dabei die Differenzierung zwischen funktionellen Läsionen der rechten und linken Gehirnhälfte.
Der CIS einer Gruppe von Nervenzellen soll durch drei Parameter determiniert werden, die in einer adäquaten Menge vorliegen müssen, um einen optimalen CIS zu gewährleisten. Sie umfassen die Sauerstoffversorgung, die Nährstoffversorgung sowie die Stimulation beziehungsweise synaptische Aktivierung.
B.1.2 Hemisphärizität
Teil des Konzepts der funktionellen Neurologie ist die Hemisphärizität oder kortikale Lateralität. Es wird postuliert, dass die beiden Gehirnhälften unterschiedliche Körperfunktionen kontrollieren würden und auch ohne Pathologie ein unterschiedliches Aktivierungslevel aufweisen können (Meyer et al., 2017). Verschiedene muskuloskelettale, neurologische und psychiatrische Symptome und Erkrankungen sollen damit Hinweis auf die Seite der funktionellen Läsion geben. Beispielsweise werden Kopfschmerzen und Schwindel mit der rechten zerebralen Hemisphäre, ADHD mit der rechten zerebralen Hemisphäre und dem linken Kleinhirn in Verbindung gebracht.
B.2 Assessment und Behandlung
In der klinischen Untersuchung soll der CIS verschiedener Neuronengruppen beurteilt werden. Da dieser nicht direkt getestet werden kann, werden stattdessen die Antworten verschiedener Effektoren, wie Augenbewegungen oder der vestibuluookkuläre Reflex, analysiert. Es wird angenommen, dass aufgrund der Reaktionen am Erfolgsorgan Rückschlüsse auf den CIS des präsynaptischen Neuronenverbandes gezogen werden können. Hinweis auf einen dysfunktionalen CIS ist ein als „Ermüdbarkeit“ („Fatigability“) bezeichneter Zustand, bei dem die Antwort des Effektors auf einen anhaltenden oder wiederholten Stimulus nicht so aufrechterhalten werden kann, wie er sollte. Die Testungen können dabei auch ohne offensichtliche klinische Indikation zur Anwendung kommen, wie beispielsweise das Assessment des Kleinhirns bei Rückenschmerzen.
Ziel der Behandlung ist es, neuroplastische Veränderungen in den Neuronenverbänden mit der funktionellen Läsion zu erwirken, wodurch der efferente Output normalisiert werden soll. Hierfür werden verschiedene sensorische, motorische und kognitive Stimuli genutzt. Die Art des Stimulus hängt dabei davon ab, welche Neuronen Ziel der Intervention sind. Die Seite der Applikation beruht darauf, ob die Nervenbahn, welche zu den anvisierten Nervenzellen führt, kreuzt oder nicht. Dabei kann ein Gehirnareal durch verschiedene Methoden stimuliert, und eine Methode mehrere Gehirnbereiche stimulieren. Beispielsweise sollen manuelle Therapie und Augenbewegungsübungen, sowohl zur Behandlung des Cortex, als auch des Kleinhirns genutzt werden können.
C. Grundlagen des Neuroathletiktrainings
In seinem Buch „Training beginnt im Gehirn“ postuliert Lienhard (2019) in Anlehnung an die funktionelle Neurologie und Z-Health, dass sämtliche Körperfunktionen durch das Gehirn veranlasst und reguliert würden. Durch Neuroathletiktraining könne die Kommunikation zwischen Gehirn und Körper und damit die Leistungsfähigkeit verbessert werden. Dabei wird die folgende Arbeitsweise des zentralen Nervensystems angenommen: Sensorischer Input aus den Sinnesorganen wird im Gehirn analysiert und interpretiert, woraufhin ein motorisches Output generiert wird. (Sportliche) Leistung sei damit immer auch das Ergebnis der Qualität der Eingangsignale und der neurologischen Verarbeitungsprozesse, welche der Bewegung zugrunde liegen würden. Im Studienguide von Z-Health wird die Ursache von Leistungseinschränkungen als Input-Problem bezeichnet. Voraussetzung für eine hohe Leistung ist Lienhard zufolge der Erhalt ausreichender und hochwertiger Informationen aus den Sinnesorganen sowie eine optimale Funktion des Gehirns zur Analyse und Interpretation dieser Informationen. Sind diese Bedingungen nicht gegeben, komme es zu Leistungseinschränkungen, da der Erhalt der Sicherheit des Organismus im Vordergrund stehe. Eingeschränkte sensorische Informationen oder unzureichende verarbeitende Prozesse würden also eine potenzielle Bedrohung darstellen (Lienhard, 2020).
Die benötigten Informationen für die Gewährleistung von Sicherheit und optimaler Bewegung, stammen laut Lienhard (2017) vorwiegend aus dem visuellen, vestibulären und propriozeptiven System. Grundlegend ist die Annahme der Zuständigkeit der Gehirnhälften für die jeweils kontralateralen Willkürbewegungen und ipsilaterale Körperstabilität. Große Bedeutung wird außerdem der Formatio reticularis zugeschrieben, die für posturale Kontrolle, Muskeltonus, Regulierung des Sympathikotonus sowie Schmerzinihibition auf der ipsilateralen Seite verantwortlich sein soll. Auf Grundlage dessen soll die Manifestation bestimmter Symptome Rückschlüsse auf die verantwortliche Gehirnstruktur zulassen.
D. Kritik
D.1 Gefahrenfilter
Das von Lienhard (2017) beschriebene Konzept des Schutzes des Organismus als oberste Priorität und die negative Beeinflussung von angenommener Gefahr auf die motorische Leistung ist nicht nur naheliegend, sondern wird auch von der Literatur unterstützt (Moseley et al., 2012; Wallwork et al., 2016). Dass es aufgrund von unzureichender Quantität oder Qualität der afferenten sensorischen Information zu einer potenziellen Gefahr komme, geht so allerdings nicht aus der Literatur hervor.
Outputs aller Art – Bewegungen, Gefühle wie Schmerzen, immunologische, endokrine und vegetative Veränderungen – können als Resultat der Aktivierung neuro-immunologischer Netzwerke, auch als Neurotags bezeichnet, verstanden werden (Wallwork et al. 2016). Dabei besteht eine Hierarchie an Neurotags, sodass ein neuronales Netzwerk (primärer Neurotag), welches ein Output (z.B. eine Bewegung) bewirkt, von anderen Neurotags beeinflusst wird (sekundäre Neurotags), welche wiederum von weiteren Neurotags beeinflusst werden (tertiäre Neurotags) und so weiter. Welches beziehungsweise welche Neurotag(s) Einfluss auf ein Neurotag der nächst höheren Ebene nehmen, hängt dabei von der neuronalen Masse, neuronalen Präzision und synaptischen Effizienz des Neurotags der niedrigeren Ebene ab.
Zu einer eingeschränkten motorischen Leistung und/ oder Schmerzen kommt es dann, wenn der Schutz des Körpers im Vordergrund steht, da Gefahr repräsentierende Neurotags den größten Einfluss auf das primäre Bewegungs- und/ oder Schmerz-Neurotag ausüben - nicht weil unzureichende sensorische Information vorliegt. Jegliche Hinweise auf eine Bedrohung, beispielsweise nozizeptive Stimuli, hinderliche Kognitionen (z.B. „das ist zu gefährlich“), oder bestimmte propriozeptive Informationen (z.B. beim Umknicken des Sprunggelenks), können schützende Outputs und daher eine veränderte Bewegung zur Folge haben. Vermehrte und qualitativ bessere Information aus dem visuellen, verstibulären oder propriozeptiven System geht nicht mit einer verminderten Gefahr für den Organismus einher. Auch wenn bislang nur wenige Studien vorliegen, deuten diese sogar darauf hin, dass Sportlerinnen unterschiedlicher Fertigkeitslevel und Sportarten ihre Leistung auch bei verschwommener Sicht aufrechterhalten können und Novizinnen sogar davon zu profitieren scheinen (Limballe, Kulpa & Bennett, 2022).
Dennoch sei angemerkt, dass es unter pathologischen Bedingungen, wie beispielsweise chronischen Schmerzen, zu Ungenauigkeiten propriozeptiver Neurotags, also der kortikalen Repräsentation propriozeptiver Information zu kommen scheint, erkennbar an einer verminderten Akkuratheit und Schnelligkeit bei der Lateralitätserkennung (z.B. Stanton et al., 2012; Wallwork et al., 2020). Graded Motor Imagery, ein Behandlungsansatz der Übungen zur Lateralitätserkennung enthält, scheint sich positiv auf chronische Schmerzen auswirken zu können (Bowering et al., 2013). Diesem Effekt könnte eine vermehrte Präzision und damit ein erhöhter Einfluss propriozeptiver Neurotags zugrundeliegen. Entsprechende Übungen sind aber nicht Teil eines Neuroathletiktrainings: im Curriculum von Z-Health sollen propriozeptive Informationen primär durch Gelenkbewegungen und damit einhergehende Stimulation der dort befindlichen Mechanorezeptoren erhöht werden.
D.2 Vernachlässigung der Komplexität
D.2.1 Informationsverarbeitung
Lienhard (2017, 2020) nimmt ebenso wie Z-Health ein vereinfachtes Modell der Informationsverarbeitung basierend auf dem Prozess von Input, Verarbeitung und Output an, welches dem Menschen als komplexes System nicht gerecht wird. Auch wenn immer wieder Worte wie „Vorhersagen“ beziehungsweise „Predictions“ fallen, wird der derzeitige wissenschaftliche Konsens hinsichtlich des Predictive Processing-Ansatzes als Erklärungsmodell für die menschliche Gehirnfunktion nicht berücksichtigt. Predictive Processing Theorien zufolge werden sämtliche eintreffende sensorische Informationen durch interne Modelle vorhergesagt und diese mit den tatsächlich eintreffenden Informationen abgeglichen (Clark, 2013). Wird eine Diskrepanz, ein sogenannter Vorhersagefehler erkannt, kommt es zu einer entsprechenden Anpassung des internen Modells. Outputs wie Bewegungen oder Schmerzen sollen demnach immer das Ergebnis der Annahmen des internen Modells sein.
D.2.2 Hierarchische Organisation
Viele wissenschaftliche Einsichten sprechen gegen die Auffassung des „Gehirns als Chef“ (Lienhard, 2017), das sämtliche Körperfunktionen steuert. Stattdessen ist der Mensch als ein komplexes, selbst-organisiertes System anzusehen. Selbst-Organisation kann dabei als die Entstehung von Mustern und Ordnung durch interne Prozesse anstatt durch externe Beschränkungen oder Kräfte verstanden werden (Green, Sadedin & Leishman, 2019). Dies bedeutet nicht, dass keinerlei hierarchische Organisation besteht - ein funktionelles Ziel wird durch ein höheres Level in der Hierarchie bestimmt, dennoch besteht aber eine gewisse Freiheit der Elemente auf tieferen Ebenen (Gelfand & Latash, 1998). Die Emergenz neuer Strukturen und Eigenschaften ist dabei das Kennzeichen eines selbst-organisierten Systems (Yackinous, 2015).
D.2.3 Hemisphärizität
Im Neuroathletiktraining wird eine klare Trennung zwischen linker und rechter Gehirnhälfte und ihren jeweiligen Aufgaben vorgenommen. Auch wenn die neuroanatomischen Grundlagen hinsichtlich des Verlaufs von Nervenbahnen korrekt sind, wird auch hier die Komplexität des Menschen vernachlässigt. So findet die enge Verbindung zwischen Organismus und den ihn umgebenden Raum keinerlei Berücksichtigung. Beispielsweise konnten Moseley, Gallace und Ianetti (2012) in einer Studie mit CRPS-Patientinnen aufzeigen, dass sich die Hauttemperatur der normalerweise kälteren betroffenen Hand erhöhte, wenn diese auf die nicht betroffene Körperseite gelegt wurde. Die Temperatur der gesunden Hand verringerte sich bei Kreuzung der Hände über die Mittellinie. Somit scheinen Stimuli der linken Seite des Raums entsprechend eines körperzentrierten Bezugsrahmens auch dann links abgebildet zu werden, wenn sie von der rechten Körperseite stammen.
D.2.4 Modul-Denken
Kognitives Training im Sport beruht auf der Annahme, dass isolierte Gehirnprozesse und perzeptuell-kognitive Funktionen unabhängig von Handlungen im Leistungskontext trainiert werden könnten (Renshaw et al., 2019). Die isoliert verbesserten kognitiven Prozesse sollen dann in die eigentliche sportliche Handlung zurück integriert werden können und so eine Leistungssteigerung nach sich ziehen. Dieses Modul-Denken ist auch im Neuroathletiktraining mit seinen visuellen und vestibulären Drills zentral, ist aber mit dem Ansatz der verkörperten Wahrnehmung nicht zu vereinbaren. Aus einer Ecological Dynamics Perspektive resultiert sportliche Leistung aus einer differenzierten Interaktion zwischen einem Individuum und seiner Umwelt, Wahrnehmung basiert auf Handlungsmöglichkeiten in der Umwelt, sogenannten Affordances (Araújo et al., 2019) (s. Wahrnehmung & Handlung). Demnach wäre eine Trennung von Wahrnehmung, Kognition und Handlung nur wenig zielführend.
Z-Health selbst betont immer wieder das SAID-Prinzip (specific adaptation to imposed demand), demzufolge Adaptionen nur auf gestellte Anforderungen erfolgen. Es bleibt somit offen, wie sich Praktizierende den postulierten Transfer von spezifischen, vom Kontext isolierten Drills auf die sportliche Leistungsfähigkeit erklären. Mögliche Mechanismen für ein verbessertes Ergebnis beim Post-Assessment könnten der Placebo-Effekt basierend auf der Erwartung einer Leistungssteigerung, oder der Placebo by Proxy-Effekt, vermittelt durch die Erwartung des Trainers oder der Trainerin, darstellen.
D.3 Wissenschaftliche Evidenz
D.3.1 Assessment: Ganganalyse, Testungen des visuellen und vestibulären Systems
Ein grundlegendes Assessment („Gold Standard Assessment“) bei Z-Health und im Neuroathletiktraining stellt die Ganganalyse dar. Dabei werden vier funktionell neurologische Gangmuster unterschieden. Ein Beispiel ist das „zerebelläre Gangmuster“, das durch eine Innenrotation der oberen und unteren Extremität ipsilateral zur dysfunktionalen Seite des Kleinhirns gekennzeichnet sein soll. Die anschließende Behandlung umfasst ipsilaterale Bewegungen („Mobility Drills“) in Anlehnung an die Befunde der Ganganalyse (z.B. Hüftkreisen bei Valgusknie) sowie spezielle Augenübungen, um die betroffene Seite des Kleinhirns zu aktivieren.
Abgesehen davon, dass die Indikation für eine Ganganalyse nicht bei jeder Patientin oder Sportlerin vorliegt, entziehen sich diese reduktionistischen Annahmen über Zusammenhänge von Symptomatik (Schmerzen und/ oder Leistungsproblematik), Testergebnis (Befunde wie „Bobblehead“, verminderter Armschwung, Rotationen der Extremitäten) und Ursache im Gehirn (z.B. Kleinhirn, Stammhirn oder Hemisphäre) jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis.
Anhand weiterer Tests sollen die visuellen und vestibulären Fähigkeiten der Sportlerin erfasst werden. Die Validität und Reliabilität der verwendeten Testverfahren wurde nie untersucht. Ob von den verwendeten Assessments also Rückschlüsse auf das Gleichgewichts- und visuelle System, oder bestimmte Gehirnareale gezogen werden können, ist bestenfalls unklar.
D.3.2 Training
Im Neuroathletiktraining kommen „Mobility Drills“, „visuelle Drills“ sowie „vestibuläre Drills“ zum Einsatz.
Obwohl im Curriculum von Z-Health ein modernes Schmerzverständnis betont wird, spiegelt sich dieses nicht in der Behandlung von Schmerzen wider. Mobility Drills, welche schmerzende Gelenke und Bewegungen „spiegeln“ (z.B. Ellenbogenkreisen mit Betonung der Extension links bei schmerzender Knieflexion rechts), sollen den propriozeptiven Input erhöhen und so Schmerzen reduzieren. Ein derartiges Vorgehen entspricht nicht der Komplexität von Schmerz und einer evidenzbasierten Vorgehensweise in ihrem Management.
Die Assessments für das visuelle und vestibuläre System sind gleichzeitig die zur Anwendung kommenden visuellen und vestibulären Drills. Auch hier bleibt aufgrund fehlender Studien unklar, ob die Übungen tatsächlich das jeweilige System trainieren. Vollkommen außen vor bleibt dabei zudem, ob das anvisierte System überhaupt für eine Verbesserung der sportlichen Leistung relevant ist.
Studien zur Effektivität eines Neuroathletiktrainings hinsichtlich einer Leistungsverbesserung oder Schmerzreduktion finden sich nicht, allerdings liegen einige wissenschaftliche Arbeiten zur funktionellen Neurologie und zum kognitiven Training im Sportkontext vor.
Funktionelle Neurologie
Die funktionelle Neurologie ist ein therapeutischer Ansatz zur Behandlung verschiedenster Erkrankungen, Konditionen und Symptome. Studien, welche die Effektivität funktionell neurologischer Interventionen untersuchten, weisen massive methodologische Mängel auf (Meyer & Leboeuf-Yde, 2018). Eine auf den Ansätzen der funktionellen Neurologie basierende Behandlung kann aus diesem Grund nicht als evidenzbasiert angesehen werden (Demortier & Leboeuf-Yde, 2020).
Kognitives Training
Die Evidenz für die Effektivität von kognitivem Training auf die sportliche Leistungsfähigkeit ist limitiert (Walton et al., 2018). Zwar ist von einer Verbesserung bei der trainierten Aufgabe auszugehen (Near Transfer), ein Übertrag auf andere (Sport-)Situationen (Far Transfer) ist allerdings nicht oder nur stark eingeschränkt zu erwarten (Simons et al., 2016). Harris, Wilson und Vine (2018) konnten im Rahmen eines systematischen Reviews zur Effektivität von kognitiven Trainingsmitteln nur eine einzelne Studie identifizieren, welche den Transfer auf eine sportliche Aufgabe untersuchte. Die Autoren schlussfolgern, dass ausschließlich geringe Evidenz für übertragbare Effekte eines kognitiven Trainings auf die sportliche Leistungsfähigkeit bestehe.
Neben der limitierten Anzahl an Studien zur Effektivität eines kognitiven Trainings, fehlen außerdem Untersuchungen, welche kognitive Trainingsinterventionen mit nachweislich effektiven Interventionen vergleichen.
E. Das wackelige Grundgerüst des Neuroathletiktrainings
Viele Grundannahmen des Neuroathletiktrainings vernachlässigen die Komplexität des emergenten Systems Mensch und basieren nicht auf aktuellen Theorien zur Informationsverarbeitung und Bewegungskontrolle. Sowohl die verwendeten Assessments als auch Behandlungen wurden nicht auf Validität, Reliabilität beziehungsweise Effektivität untersucht. Ob die postulierten Gehirnbereiche tatsächlich getestet, oder durch das Training in ihrer Struktur und Funktion verändert werden, bleibt ebenso wie der Zusammenhang mit einer Leistungsverbesserung fraglich. Studien zu kognitiven Trainingsinterventionen zeigen jedoch eine eingeschränkte Übertragbarkeit von verbesserten visuellen Fähigkeiten in den sportlichen Kontext. Die Durchführung eines Neuroathletiktrainings scheint - zumindest vor dem Hintergrund der postulierten Effekte und Mechanismen - nicht gerechtfertigt zu sein.
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