Text: Simon Klug | Sparring: Pat Preilowski & Leon Cassian Hammer | Korrektorat: Judith Begiebing | Stimme: Friederike Niermann |

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Im Sprint

- Anhand von Video- oder Tonaufnahmen kann ein Gespräch analysiert werden, um mögliche Wahrnehmungsfehler hinsichtlich der eigenen Kommunikation aufzudecken

- Mithilfe des Motivational Interviewing Treatment Integrity Coding Manual (MITI) kann die Anwendung von MI bewertet werden

- Konkrete Übungen können die MI-Fähigkeiten verbessern

A. Einen Blick hinter die Kulissen werfen

Eine Besonderheit, die Methoden der Kommunikation und Interaktion betrifft, ist häufig das “das machen wir doch schon so” Phänomen. Weil wir ständig mit anderen interagieren und man, wie Watzlawick sagt, nicht nicht kommunizieren kann, und dabei selten unsere Fehler korrigiert werden und wir nicht wissen, was wir nicht wissen, nehmen wir häufig an, dass das was wir tun gut ist. Hier ist unsere Wahrnehmung besonders anfällig für Verzerrungen wie der Confirmation Bias oder der Dunning-Kruger-Effekt und wir nehmen in der Regel an, dass wir gut kommunizieren.

Eine vielversprechende Möglichkeit hinter die Fassade zu blicken ist es, die eigenen Gespräche aufzunehmen und sich anschließend vor Augen und Ohren zu führen, was man denn wirklich so gesagt, gefragt und getan hat. Denn der erste Schritt aus der unbewussten Inkompetenz (Dreyfuß) und dem Nichtwissen (Dunning und Kruger) ist es, die eigenen “Fehler” zu suchen und zu finden.

MI ist ein Gesprächsstil, der bestimmte Ideen, einen Spirit, ein Mindset und Techniken mit sich bringt. Dieses Personenzentrierte und Kollaborative ist häufig etwas, was sich vom bisherigen üblichen Tun unterscheidet. Deutlich wird dies meist beim Anhören der eigenen Gesprächsaufnahmen.

A.1 Übungen mit aufgenommenen Material

  • Eine Tonaufnahme eines Gesprächs anfertigen
     - Anamnese, Edukation oder Planung des Selbstmanagements bieten sich   besonders an
     - Diese Aufnahme zeitnah anhören und mit den “frischen” Erinnerungen und   Erwartungen abgleichen
     - Die Aufnahme transkribieren
     - Die Aufnahme analysieren
  • Eine Videoaufnahme eines Gesprächs anfertigen
  • Gemeinsam mit Kolleginnen, die Aufnahmen ansehen und besprechen
  • Bewertung des Gesprächs und Transkripts durch Kolleginnen oder Supervisorinnen
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Motivational Interviewing 11: Übungsportfolio & praktische Tipps zur Umsetzung
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B. Analyse der Gespräche

Vielleicht stolpert die eine oder andere beim Anhören der Aufnahmen über bestimmte Passagen und denkt sich “da war ich vielleicht doch nicht so personenzentiert wie ich dachte”, “hier hätte ich aber noch mal zuhören können”. “Da musste ich ihr ja sagen, was zu tun ist” oder “da war ich vielleicht etwas vorschnell mit meiner eigenen Lösungen”. Wenn ich hier noch kurz gewartet oder zugehört hätte, dann hätte die Klientin bestimmt etwas Eigenes gesagt”.

Ob die Interaktion grundsätzlich gut oder schlecht war, kann niemand wissen (insbesondere kann man es nicht an den Outcomes ablesen). Wir können aber fragen, ob das, was wir getan haben, im MI Spirit war.

Hierfür gibt es ein Dokument, welches Moyers und Kolleginnen entwickelt und von Freyer-Adam und Zimmer ins Deutsche übersetzt wurde: das MITI oder Motivational Interviewing Treatment Integrity Coding Manual.

Mit dem freizugänglichen MITI kann leicht überprüft werden, wie mit Change Talk umgegangen wurde, oder wie partnerschaftlich das Gespräch war. In diesem Dokument finden sich auch viele Beispiele, die zeigen, was etwa eine volle Punktzahl für “Change Talk fördern”  von einer schlechten Punktzahl unterscheidet.

C. Übung macht den Meister und die Meisterin

Übungen, die den theoretischen Wissenserwerb im Fokus haben, sind sicherlich wichtig, weil ein solides theoretisches Fundament die Arbeit mit Menschen erleichtern kann - man weiß, was man tut.

Mindestens ebenso essenziell wie das Wissen ist das Können. Höhere Kompetenz im Gebrauch des MI entsteht überwiegend durch praktische Anwendung. Es ist unabdingbar, das erworbene Wissen anzuwenden und die PS auf die Straße zu bringen. Dafür ist es sinnvoll, in Gruppen von Gleichgesinnten zu üben. Partnerarbeit und Dreiergruppen, bei denen die Rolle einer Beobachterin oder Protokollantin hinzukommt, sind ein idealer Startpunkt.

Zur Steigerung der Kompetenz ist es sinnvoll, die Elemente, die im Gespräch dynamisch zusammenfließen, zunächst isoliert zu erarbeiten. So kann jede Basistechnik in jedem Prozess einzeln geübt werden. Weil in Gesprächen viel auf einmal passiert und häufig mehrere Bälle in der Luft zu halten sind, ist es von Vorteil, wenn man nicht versucht alles perfekt zu machen, sondern Stück für Stück einzelne Dinge verbessert und sie erst später wieder zusammensetzt.

Grundsätzlich ist es empfehlenswert sicherzustellen, dass mindestens eine Person anwesend ist, die schon Erfahrungen in MI hat und in der Lage ist qualifiziertes Feedback zu geben.

D. Konkrete Übungen

D.1 Im Spirit oder nicht im Spirit?

Der Spirit, die personenzentrierte Grundhaltung, ist ein zentrales Element, auf dem dieser Gesprächsstil fußt. Der Spirit ist nicht nur Voraussetzung für die Wirksamkeit der Techniken, er kann auch dafür sorgen, dass etwaige „technische Mängel“ ausgeglichen oder verziehen werden können, wenn die andere Person spürt, dass man diese besondere Haltung an den Tag legt.

Aus diesen Gründen beschäftigt sich die erste Übung auch mit dem Spirit. Die erste Aufgabe besteht darin, eine Aussage zu hören und zu überlegen, ob diese Aussage die personenzentrierte Grundhaltung transportiert oder nicht.

Man kann so ziemliches alles als Material verwenden: alltägliche Gespräche zwischen Freundinnen oder Familienmitgliedern, eigene Gespräche mit Klientinnen, Dialoge im TV oder anderen Medien … und dann überlegen, ob hier jemand personenzentriert, partnerschaftlich, akzeptierend, mitfühlend, empathisch und wertschätzend war. In einem weiteren Schritt können die eigenen Überlegungen verschriftlicht und analysiert werden. Aus den Ergebnissen kann etwa eine Liste angefertigt werden, die die Faktoren bündelt, warum etwas im Spirit, oder nicht im Spirit war.

D.2 Zuhören, zuhören, zuhören

Eine der wichtigsten Haltungstransmitter ist das reflektierende oder aktive Zuhören. Man schafft einen Raum, den die andere Person einnehmen kann; spielt nur ihre Bälle zurück und lädt so personenzentriert zur Selbstexploration und Selbstoffenbarung ein. Weil Zuhören nicht einfach ist, ist es sinnvoll dieses zu üben.

Bei dieser Übung soll ein Dialog mit einer anderen Person geführt werden, in dem die Beraterin ausschließlich zuhört. Idealerweise in einem Kontext, in dem man ansonsten nicht-personenzentriert einen guten (oder zumindest gut gemeinten) Ratschlag gibt.

Die Beraterin soll zuhören und beobachten, wie sich das aktive Zuhören auf die Interaktion ausübt. Wird ein Raum geschaffen und genutzt? Verändert sich die Verteilung der Gesprächsanteile? Nimmt die andere Person das Angebot an? Bleibt es ein natürliches Gespräch oder wird es holzig? Fällt es der anderen Person auf, dass ihr (ausschließlich) zugehört wird und wenn ja, wann? Wie war das Gespräch für beide Parteien? Wie ist es für die Beraterin bewusst nur zuzuhören? Fällt es der Beraterin leicht, dem righting reflex zu widerstehen? Fällt es leicht, komplex zu reflektieren? Fällt es leicht im Gespräch zu bleiben und die andere im Fokus zu haben oder gibt man dem Drang nach, sein Eigenes ins Gespräch zu bringen?

D.3 Komplexes Zuhören

Aus dem Herzen zu sprechen, kann ein großer Katalysator für die Beziehung zwischen den Expertinnen und für die angestrebte Veränderung sein, aber es stellt auch die hohe Kunst des MI dar. Beraterinnen haben zwar Vermutungen darüber, was die andere im Herzen trägt und eigentlich sagen will, aber nicht ausspricht. Die zugrundeliegenden Werte, die vielleicht auch die Identität einer Person mitbestimmen, sind selbstredend vielschichtig und treten in einem Gespräch nicht offensichtlich zutage.

Bei dieser Übung geht es darum, eine passende Idee zu finden. Trifft mein Zuhören den Kern der Sache, die zugrundeliegenden Werte, spricht es aus dem Herzen? Die Aufgabe ist es drei bis fünf Ideen zu finden, die hinter einer (alltäglichen) Aussage stehen könnten.

Aussage: „Es nervt mich, wenn alle zu spät zum verabredeten Termin kommen.“

Mögliche Ideen, um aus dem Herzen zu sprechen:

  • „Pünktlichkeit ist dir wichtig. Wir sollten alle respektvoll mit der Zeit anderer umgehen.“
  • „Dir ist es wichtig, dass alle gleichzeitig anfangen. Das schweißt die Gruppe zusammen.“
  • „Wer nicht pünktlich ist, ist nicht gut organisiert. Für Chaoten ist hier kein Platz.“
  • „Zeit ist knapp. Wenn die Leute nach und nach eintröpfeln, schaffen wir unser gemeinsames Programm nicht.“
  • „Du organisierst hier alles und willst Planungssicherheit haben.“

D.4 Change Talk vergrößern

Der dritte Prozess im MI ist das Evozieren von Change Talk. Die andere Person soll ihre Gründe für die Veränderung selbst aussprechen und ihre intrinsische Veränderungsmotivation explorieren und erhöhen. Hierzu muss die Beraterin Change Talk identifizieren und vergrößern können.

Die Aufgabe dieser letzten Übung ist es, eine beliebige Aussage für die Veränderung zu erkennen und mehrfach mit verschiedenen Basistechniken zu vergrößern.

  1. Identifikation: Change Talk: Ja? Nein?
  2. Identifikation: Welche Art von Change Talk: DARN
  3. Wunsch
  4. Fähigkeit
  5. Gründe
  6. Notwendigkeit
  7. Evokation: reflektierendes Zuhören
  8. Evokation: offene Frage

Bei einer Aussage soll dreimal gezielt der Change Talk vergrößert werden. Hier können alle Basistechniken verwendet und auch strategisch nach DARN exploriert werden.

Aufs Feld

Die Techniken und Prinzipien des MI sollten in realen (Alltags-)Gesprächen umgesetzt und geübt werden. Besonders förderlich kann das Aufnehmen und anschließende Analysieren des Gesprächs anhand des MITI sein, aber auch die Anwesenheit und das anschließende Feedback einer MI-erfahrenen dritten Person kann hilfreich sein.

Literatur

  1. Rosengren, 2017. Building Motivational Interviewing Skills, Second Edition: A Practitioner Workbook.

Weiterführender Inhalt

Das MITI 4.2.1 ist über die Website der University of New Mexico frei zugänglich. Es ist zu beachten, dass es sich hierbei um einen nicht zitierfähigen Entwurf handelt. Ebenso verhält es sich mit der deutschen Version.

Einen ersten Blick auf MI kann man im Interview mit Uli Gehring von GK Quest werfen.

Für Physiotherapeutinnen besonders interessant ist ein Interview mit Prof. Dr. Thomas Messner, der sich insbesondere mit MI in der Physiotherapie beschäftigt.

Etwas umfangreicher (1h 6min) ist der PhysioBib Podcast mit Prof. Dr. Thomas Messner, bei dem es auch um MI in der Physiotherapie geht.

Wer Motivational Interviewing als Präsenzkurs oder in der Onlinevariante bei Thomas Messner erleben möchte, wird bei BEST fündig. Angeboten wird zurzeit ein Grundkurs, der sich vor allem an Therapeutinnen und Trainerinnen richtet.

Wer mehr über Motivational Interviewing lesen möchte, dem seien als Erstes die oben genannten Bücher von Miller & Rollnick ans Herz gelegt. Ein erster Blick in die Evidenz ist leicht via der Foot- und Endnotes möglich.

Wer tiefer in die wissenschaftliche Seite und Evidenz hinter der Methode einsteigen will, kann einen Blick in die angeführte Fachliteratur und in freizugängliche Primärquellen (etwa via PubMed oder Google Scholar werfen). Hierbei ist erwähnt, dass MI eine Methode ist und dann in vielen unterschiedlichen Kontexten untersucht wurde und wird, man also konkrete Fragestellungen, bei denen MI angewendet wurde, sucht. Es bietet sich also an, die eigene Fragestellung mit der Zielpopulation und den gewünschten Outcomes selbst zu recherchieren.

Beispielhaft finden sich einige Belege der höheren hierarchischen Ebenen hier:

MI als eine evidenzbasierte Methode zur Verhaltensänderung kann in vielen Kontexten und Populationen eingesetzt werden. Diese kurze und breite Auflistung soll einladen, konkrete Fragestellungen selbst zu recherchieren.

Für die weiteren Artikel dieser Serie ist anzumerken, dass nun die Methode “von Innen heraus” dargestellt wird, nachdem die grundsätzliche Wirksamkeit etabliert wurde. Es soll ein Hereinschnuppern in Motivational Interviewing ermöglichen und die Anwenderinnen motivieren sich auf die Methode, auf eine personenzentrierte Haltung und ihre Techniken einzulassen. Außerdem können die Texte vielleicht als kleines Nachschlagewerk dienen, die die Anwendung erleichtern.

Interessenkonflikt

Der Autor, Simon Klug, unterrichtet MI an Fach- und Hochschulen und ist als Seminarleiter für MI tätig.

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