Text: Judith Begiebing | Sparring: Pat Preilowski | Korrektorat: Leon Cassian Hammer | Stimme: Friederike Niermann |
- Die sportpsychologische Diagnostik ist unabhängig von Grund oder Ziel einer Intervention Basis jeglichen sportpsychologischen Arbeitens, wobei verschiedene Strategien zur Auswahl stehen
- Der komplexe und dynamische diagnostische Prozess beinhaltet die Erarbeitung einer präzisen Fragestellung, das Aufstellen von Hypothesen, die entsprechende Datengewinnung und letztlich das Urteil in Form einer Diagnose oder Prognose
- Die zahlreichen diagnostischen Verfahren können in drei Gruppen zusammengefasst werden, welche das explorative Gespräch, die Verhaltensbeobachtung und (sport-)psychologische Tests umfassen. Screening-Verfahren können in der Eingangsdiagnostik einen ersten Überblick über psychologische Merkmale geben.
Inhaltsangabe
A. Warum Psychologie im Sport?
„Sie konnte dem Druck nicht standhalten“, „er ist unkonzentriert“, „ihr fehlt die Entschlusskraft“ – Aussagen, wie diese sind insbesondere im Zusammenhang mit sportlichen Großereignissen wie den Olympischen Spielen zu vernehmen. Ihnen gemein ist der Bezug auf die psychische Verfassung und/ oder Persönlichkeit der Sportlerin.
Tatsächlich ist sportliche Leistung im engeren und körperliche Aktivität im weiteren Sinne nicht ausschließlich das Produkt motorischer Fähigkeiten und technischer Fertigkeiten. Auch psychische Dimensionen wie Kognition, Motivation und Emotion, Persönlichkeitsmerkmale und das soziale Umfeld können eine wichtige Rolle spielen.
Die Sportpsychologie untersucht das Erleben und Verhalten von Menschen im Kontext sportlicher Aktivitäten, mit dem Ziel dieses zu beschreiben, zu erklären, vorherzusagen und letztlich auch zu verändern (Schüler, Wegner & Plessner, 2020). Dabei ist die Sportpsychologie als angewandte Wissenschaft von der Sportpsychologie als praktische Tätigkeit zu unterscheiden.
Als unverzichtbarer Bestandteil sportpsychologischen Handelns in sämtlichen Anwendungsfeldern, wie dem Leistungs-, Breiten- und Gesundheitssport, widmet sich der folgende Beitrag der sportpsychologischen Diagnostik.
B. Sportpsychologische Diagnostik
Grundlage jedes sportpsychologischen Arbeitens - unabhängig davon, ob Verfahren im Rahmen der Prävention oder Intervention zur Anwendung kommen sollen - ist die Diagnostik zur Erhebung psychologisch relevanter Personenmerkmale. Diese werden mittels Beschreibung, Klassifikation und Erklärung in ein diagnostisches Urteil (Befund) integriert. Im weiteren Verlauf dienen sie als Basis für Entscheidungen (z.B. Intervention oder Selektion), Prognosen und die Evaluation von Zuständen und/ oder Verläufen.
Erfasst werden Merkmale, die für das Verhalten und Erleben der Sportlerin ausschlaggebend sein können. Beispiele hierfür stellen die (Leistungs-)Motivation, Volition oder die Emotion Angst dar. Im Bereich des Teamsports sind unter anderem auch Mannschaftszusammenhalt und Teamfähigkeit von Interesse. Die Personenmerkmale werden in relativ stabile (Charakter-) Eigenschaften (Traits) und vorübergehende Zustände im Kontext von Situationen, Umwelt und Interaktionen (States) unterteilt.

C. Strategien in der Diagnostik
In der psychologischen Diagnostik stehen verschiedene Verfahrensweisen zur Auswahl, die je nach diagnostischem Ziel unterschiedlich miteinander kombiniert werden können.
- Status- vs. Veränderungsdiagnostik
Die Statusdiagnostik erfasst den Ist-Zustand von Merkmalen (z.B. in der Eingangsdiagnostik), während die Veränderungsdiagnostik durch Ermittlung des Unterschieds zwischen zwei oder mehr Messzeitpunkten Aussagen über den Verlauf von Merkmalsveränderungen treffen kann. Im Zuge dessen ist es beispielsweise möglich, die Effektivität von Interventionen zu überwachen (Monitoring).
- Norm- vs. kriteriumsorientierte Diagnostik
In der normorientierten Diagnostik werden die individuellen Merkmale der Sportlerin mit den Normwerten einer Bezugsgruppe verglichen. Im Gegensatz dazu werden die Personenmerkmale in der kriteriumsorientierten Diagnostik in Bezug zu einem Anforderungskriterium gesetzt. Beispielsweise wird zu Beginn der Vorbereitungsphase ein bestimmtes individuelles Merkmalsziel (z.B. Verringerung der Wettkampfangst) gesetzt, das am Ende der Vorbereitungsphase überprüft wird (z.B. anhand eines Fragebogens).
- Eigenschafts- vs. Verhaltensdiagnostik
Anhaltende Traits und Persönlichkeitsfaktoren werden in der Eigenschaftsdiagnostik ermittelt. Die Verhaltensdiagnostik widmet sich hingegen der Untersuchung von Verhaltensäußerungen (z.B. Emotionen wie Angst) sowie den Bedingungen ihrer Entstehung und Aufrechterhaltung.
- Uni- vs. multimethodale Diagnostik
Während in der unimethodalen Diagnostik ausschließlich eine Form der Diagnostik zum Einsatz kommt (z.B. Fragebogen), finden in der multimethodalen Diagnostik mehrere Formen Anwendung, wodurch unterschiedliche Dimensionen eines Merkmals dargestellt werden können (z.B. durch Gespräch, Fragebogen und Leistungstest).
- Dimensionale vs. klassifikatorische Diagnostik
In der dimensionalen Diagnostik werden Merkmalsausprägungen auf kontinuierlichen Dimensionen dargestellt. Die Zuordnung zu bestimmten Gruppen erfolgt dagegen in der klassifikatorischen Diagnostik. Beispielsweise wird hier versucht die Frage zu beantworten, ob eine Sportlerin an einem Burn-out leidet oder nicht.
D. Prozess der Diagnostik
Definiert wird der diagnostische Prozess als alle zeitlichen, organisatorischen, strategischen und personalen Aufwendungen zwischen zunächst allgemeinen und später präzisierten diagnostischen Fragestellungen sowie deren Beantwortung, welche in Form einer Diagnose oder Prognose erfolgt (Jäger, 2006). Im Prozessverlauf kann die Beantwortung einer Teilfrage zu neuen Fragestellungen führen, was eine Verschachtelung von Fragen und Beantwortungen nach sich zieht.
Wie aus der Definition hervorgeht, ist der diagnostische Prozess komplex und bedarf einer dynamischen Vorgehensweise, um eine fortwährend zielführende Überarbeitung und Anpassung des Prozesses gewährleisten zu können. Der im Folgenden dargestellte Verlauf (Abb.1) dient der Veranschaulichung, wird der tatsächlichen Vielschichtigkeit des Prozesses aber nicht uneingeschränkt gerecht.
Die Erarbeitung einer Fragestellung stellt den Ausgangspunkt des diagnostischen Prozesses dar. Fragestellungen betreffen ein Informationsdefizit (z.B. wie motiviert ist die Sportlerin?), oder ein in Frageform vorgegebenes Problem (z.B. warum ist die Sportlerin unmotiviert?). Daraufhin muss die Frage von Interesse - unter Berücksichtigung der Zielsetzung und Antizipation von Strategien - durch eine Operationalisierung präzisiert werden. Resultat der Präzisierung sollte eine wissenschaftliche Fragestellung sein, die anhand von Hypothesen überprüft wird. Stellt sich während der Präzisierung allerdings heraus, dass der Prozess, beispielsweise aufgrund fehlender Methodiken oder unzureichender Kongruenz mit dem eigentlichen Ziel nicht fortgeführt werden soll oder kann, muss die ursprüngliche Fragestellung überarbeitet werden.
Auf Grundlage der Ergebnisse der diagnostischen Untersuchung soll(en) die sich aus der wissenschaftlichen Fragestellung ergebende(n) Hypothese(n) im weiteren Verlauf bestätigt, oder abgelehnt werden. Dabei stehen verschiedene methodische Verfahren zur Erhebung der entsprechenden Daten zur Auswahl.
Die vorliegenden Informationen dienen schließlich als Grundlage der diagnostischen Urteilsbildung. Das Urteil, welches eine Diagnose oder Prognose darstellen kann, gilt dann als geprüfte Hypothese und ist Voraussetzung für die Planung und Durchführung konkreter Interventionen.

E. Methoden in der Diagnostik
Die zahlreichen zur Verfügung stehenden (sport-)psychologischen diagnostischen Verfahren können in drei Gruppen zusammengefasst werden, die im Folgenden näher erläutert werden sollen: das explorative Gespräch, die Verhaltensbeobachtung und (sport-)psychologische Tests (Brickenkamp, 2002).
E.1 Exploratives Gespräch
Im explorativen Gespräch werden der Sportlerin Fragen zu ihren eigenen Handlungsbeobachtungen, -beurteilungen und -erklärungen sowie zu ihrem Handlungserleben gestellt, mit dem Ziel Hinweise auf leistungsmindernde Faktoren zu erhalten. Dabei stellt das explorative Gespräch meist den Beginn des diagnostischen Prozesses dar und dient im Sinne einer persönlichen Aussprache außerdem dem Beziehungsaufbau zwischen Sportpsychologin und Sportlerin. Klare Richtlinien zur Strukturierung des explorativen Gesprächs gibt es nicht.
Kraus et al. (2012) entwickelten und evaluierten allerdings einen Erstgesprächsleitfaden, um die Güte der sportpsychologischen Diagnostik zu erhöhen. Dieser gliedert sich in drei Abschnitte, die nacheinander durchlaufen werden. Der erste Teil widmet sich dem Aufbau der Beziehung, zudem werden der inhaltliche und formale Rahmen des Gesprächs, wie Ablauf, Aufgaben, Sinn, Kosten etc., geklärt. Im zweiten Abschnitt sollen die Ziele und Schwerpunkte der sportpsychologischen Betreuung festgelegt werden, indem der Beratungsanlass, eigene Erklärungen der Sportlerin, mögliche auslösende Faktoren und bisherige Lösungsansätze besprochen werden. Neben der Zielfindung wird zudem der Beratungsanlass einer der vier Kategorien Leistungssteigerung, subklinische Indikation, klinische Indikation und Karriereende nach Gardner und Moore (2004; 2006) zugeordnet. Der dritte Teil bildet das Gesprächsende, in dem offene Fragen abgeklärt und das weitere Vorgehen abgestimmt wird.
Die Verwendung des Leitfadens im Erstgespräch scheint die Prozessqualität und Beratungszufriedenheit vonseiten der Sportpsychologinnen gegenüber individuell konzipierter Erstgespräche verbessern zu können (Kraus et al., 2012).
E.2 Verhaltensbeobachtung
Durch die Beobachtung von Verhaltensweisen soll auf zugrundeliegende psychische Merkmale geschlossen werden. Dabei kann Beobachtung als ein planmäßiger Wahrnehmungsprozess beschrieben werden, der auf einen bestimmten Beobachtungsgegenstand gerichtet ist und das Ziel der Erkenntnisgewinnung verfolgt.
Es können verschiedene Formen der Verhaltensbeobachtung unterschieden werden. Beispielsweise kann die Beobachtung offen (z.B. von der Seitenlinie) oder verdeckt (z.B. Videoaufnahmen), teilnehmend oder nicht teilnehmend erfolgen. Ferner wird neben der Feld- und Laborbeobachtung außerdem zwischen der Fremd- und Selbstbeobachtung differenziert.
Die Selbstbeobachtung wird auch als Introspektion bezeichnet und dient der Bewusstseinslenkung auf die eigenen Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen der Sportlerin.
In der Fremdbeobachtung werden fremde Verhaltensweisen über Beobachter erfasst. Da Wahrnehmung einen subjektiven Prozess darstellt, können die zu beobachtenden Kriterien in der Fremdbeobachtung genau festgelegt werden (z.B. Aggressivität, Resignation und Unselbstständigkeit der Sportlerin), damit eine möglichst systematische Beobachtung gewährleistet ist. Der Beobachtungsgegenstand kann dabei unter anderem das motorische Verhalten, das Lernverhalten oder den emotionalen Bereich umfassen. Die Beobachtung widmet sich dann zuvor festgelegten Umständen des Auftretens (z.B. wann, wie, warum) des Verhaltens von Interesse. Dabei kann die Fremdbeobachtung sowohl prozessbegleitend zur Feststellung von Veränderungen in Verhalten und Erleben, als auch klassifikatorisch zur Einteilung von Sportlerinnen in Gruppen vonstattengehen.
E.3 Sportpsychologische Tests
Unter den (sport-)psychologischen Tests kann zwischen Leistungs- und Persönlichkeitstests unterschieden werden.
E.3.1 Leistungstests
Im psychologischen Leistungstest werden „mit systematisch erstellten Aufgaben interessierende Verhaltensweisen oder psychische Vorgänge ausgelöst und geprüft“ (Kubinger, 2006). Auf Grundlage von Leistungstestergebnissen soll auf zugrundeliegende Fähigkeiten und Dispositionen der Testperson geschlossen werden. Streng genommen wird in einem Leistungstest aber nur ein Verhaltensausschnitt, also eine aktuelle Leistung in einer bestimmten Situation unter bestimmten Bedingungen gemessen. Vom Begriff des „Fähigkeitstests“ anstelle von Leistungstest wird aus diesem Grund abgeraten (Brickenkamp, 2002). Im Bereich des Sports sind unter anderem Leistungstests zur Motivation, Aufmerksamkeit, Konzentration, Verarbeitungsgeschwindigkeit und Aktiviertheit von Interesse.
Ein Beispiel stellt der objektive Leistungsmotivationstest (OLMT) von Schmidt-Atzert und Kollegen dar. Der OLMT ist ein computergestütztes Verfahren, das die Anstrengungsbereitschaft und damit die Leistungsmotivation unter verschiedenen Anreizbedingungen (persönliche Bestleistung erbringen, sich individuelle Ziele setzen, mit einem Konkurrenten in Wettbewerb stehen) erfasst. Die Auswertung erfolgt durch den Vergleich der Ergebnisse mit einer Normstichprobe. Bessere Leistungen im OLMT scheinen mit einer besseren Abiturnote, einem höheren Bildungsniveau und anderen kogntiven Leistungstests positiv zu korrelieren. Die Konstruktvalidität bleibt durch den fehlenden Vergleich mit anderen Leistungsmotivationstests allerdings bislang offen (Brandstätter, 2005).
E.3.2 Persönlichkeitstests
Innerhalb der Persönlichkeitstests kann eine weitere Aufteilung in psychometrische Persönlichkeitstests und Persönlichkeits-Entfaltungsverfahren vorgenommen werden.
E.3.2.1 Psychometrische Persönlichkeitstests
Mittels psychometrischer Persönlichkeitstests werden Verhaltensmerkmale quantitativ erfasst. Dabei werden spezifische, klar strukturierte Stimuli vorgegeben, um bestimmte Verhaltensaspekte zu messen (Brickenkamp, 2002). Zur Gruppe der psychometrischen Persönlichkeitstests gehören Persönlichkeits-Struktur-Tests zur Messung mehrerer Persönlichkeitsmerkmale, Einstellungs- und Interessentests sowie klinische Tests zur differenzialdiagnostischen Beurteilung im psychopathologischen Bereich.
Zwei Beispiele sportspezifischer psychometrischer Persönlichkeitstests aus dem Bereich der Motivation (Sport Orientation Questionnaire) und Volition (Handlungsorientierungsfragebogen Sport) werden im Folgenden vorgestellt.
Sport Orientation Questionnaire (SOQ)
Der Sport Orientation Questionnaire (SOQ; deutsche Fassung: Elbe, 2004) dient der Bestimmung der Leistungsorientierung. Erfasst werden die drei Skalen Wettkampforientierung, Gewinnorientierung und Zielorientierung der Sportlerin (Elbe et al., 2008). Bei einer hohen Wettkampforientierung werden Wettkämpfe als Herausforderung angesehen und die Sportlerin hat Spaß daran sich mit anderen zu messen. Bei hoher Gewinnorientierung wird hingegen das Gewinnen als zentrales Element guter Leistung angesehen, während leistungsorientierte Sportlerinnen nach Verbesserung der eigenen Leistung streben.
Eine gute Reliabilität sowie Konstrukt- und Kriteriumsvalidität des SOQ wurden bestätigt (Elbe, 2004). Die Wettkampforientierung scheint bei Leistungssporttreibenden höher ausgeprägt zu sein als bei nicht leistungssportlich Aktiven und mit dem sportlichen Engagement in Zusammenhang zu stehen (Elbe, 2004). Hellandsig (1998) stellte in einer Längsschnittstudie fest, dass eine hohe Wettkampforientierung und niedrige Gewinnorientierung sportartübergreifend hohe sportliche Leistungen über drei Jahre vorhersagen konnten. In einer weiteren Untersuchung an Spielern der U12 des deutschen Fußball-Bunds konnte aufgezeigt werden, dass Wettkampf- und Zielorientierung sowohl mit einer höheren derzeitigen als auch zukünftigen Leistung assoziiert waren und Spieler mit einer höheren Wettkampf- und Zielorientierung vier Jahre später mit höherer Wahrscheinlichkeit in der U16 spielten (Höner & Feichtinger, 2016).
Handlungsorientierungsfragebogen Sport (HOSP)
Anhand des Handlungsorientierungsfragebogens Sport (HOSP) kann die Handlungsorientierung auf einem Kontinuum zwischen lage- und handlungsorientiert bestimmt werden (Wenhold et al., 2008). Sportlerinnen mit einer hohen Handlungsorientierung richten mentale Prozesse auf den Handlungsvollzug aus, während Sportlerinnen mit einer niedrigen Handlungsorientierung und folglich hoher Lageorientierung über Zukünftiges, Gegenwärtiges oder Vergangenes reflektieren. Im HOSP wird die Handlungsorientierung nach Misserfolgserlebnissen, bei der Handlungsplanung/-entscheidung und bei (erfolgreicher) Tätigkeitsausführung gemessen.
Untersuchungen an Leichtathleten legen nahe, dass eine misserfolgsorientierte Lageorientierung und handlungsorientierte Tätigkeitsausführung bei Disziplinen mit kurzen Schnell- und Explosivkraftleistungen, wie Hoch-/ Weitsprung, oder Speerwurf einen leistungsbegünstigenden Effekt haben können, während dies bei Disziplinen wie dem Langstreckenlauf, welche hohe Anforderungen an die Energieregulierung stellen, nicht der Fall zu sein scheint (vgl. Beckmann & Kazén, 1994).
E.3.2.2 Persönlichkeits-Entfaltungsverfahren
Im Gegensatz zu psychometrischen Persönlichkeitstests kommen in Persönlichkeits-Entfaltungsverfahren unspezifischere Aufgabenstellungen zur Anwendung, welche größeren Spielraum in der Beantwortung und Reaktion lassen. So werden Verhaltensaspekte nicht gemessen, sondern ihr Ausdruck provoziert, welcher von der Diagnostikerin nach qualitativen Interpretationsmustern beurteilt wird (Brickenkamp, 2002). Zu den Persönlichkeits-Entfaltungsverfahren zählen Formdeuteverfahren, bei denen unstrukturierte, nicht klar erkennbare Reize (z.B. Tintenkleckse) gedeutet werden sollen sowie zeichnerische und Gestaltungsverfahren, bei denen eine gegebenenfalls thematisch vorgegebene Zeichnung angefertigt oder ein freies oder bestimmtes Thema mit festgelegtem Testmaterial (z.B. geometrische Figuren) dargestellt werden soll. Eine dritte Untergruppe umfasst die verbal-thematischen Verfahren. Reize wie Wörter, Sätze oder Bilder sollen hierbei zur verbalen Auseinandersetzung mit bestimmten Problembereichen anregen. Zu ihnen gehören die Ergänzungs-, Assoziations- und Erzählverfahren.
Beispielsweise kann im Rahmen einer sportspsychologischen Betreuung ein Satzergänzungsverfahren zum Einsatz kommen, bei der die Sportlerin Sätze wie „Ich bin …“, „Ich denke …“, oder „Ich habe …“ mit sowohl positiven als auch negativen Gedankeninhalten vervollständigen soll. Ist eine sportpsychologisch relevante Problematik (z.B. Angst) erkannt, können problemzentrierte Satzergänzungen, wie „Meine Angst ist am stärksten, wenn …“, oder „Ich vermeide …“ spezifischere Auskünfte geben. Ziel der problemorientierten Assoziationsanalyse ist es die Ursache(n) der Problematik aufzudecken. Der Sportlerin werden hierfür verschiedene Begriffe und Sätze, welche mit ihrer individuellen Problemsituation in Bezug stehen können, vorgelegt. Daraufhin sollen mit den Begriffen spontan assoziierte Gefühle und Gedanken formuliert werden. Die Begriffe sollten dabei aus den Bereichen soziale Beziehungen (z.B. „Trainer“), eigener Antrieb (z.B. „Spaß“), Zugehörigkeit zu Leistungsklassen (z.B. „zweite Liga“) und persönliche Einstellungen und Fähigkeiten (z.B. „eigene Technik“) stammen.
Voraussetzung einer effektiven sportpsychologischen Betreuung sind standardisierte Verfahren in der Diagnostik, deren Güte durch eine ausreichende Reliabilität, Validität und Objektivität gegeben ist. Die Anzahl entsprechender deutschsprachiger sport(art)spezifischer Tests ist allerdings begrenzt.
F. Screening
Standardisierte Diagnostikinstrumente wie Fragebögen erfassen meist nur einzelne Merkmale und gegebenenfalls einige ihrer Unterskalen. Da aber insbesondere in der Eingangsdiagnostik verschiedene Merkmale von Interesse sind und die Verwendung von Testbatterien, also die Zusammenstellung mehrerer Tests, einen großen zeitlichen Aufwand darstellt, bietet sich das sogenannte Screening an. Das Screening (engl. Siebung, Rasterung, Durchleuchtung) stellt ein diagnostisches Verfahren dar, bei dem die Erfassung von Personenmerkmalen zunächst relativ oberflächlich und damit zeit- und kostengünstig erfolgt. Ziel ist die Gewinnung eines Überblicks über die wichtigsten psychologischen Merkmale bei geringer Beanspruchung der zu testenden Person. Sind Auffälligkeiten im Screening ersichtlich, kann im weiteren Verlauf ein aufwändigeres diagnostisches Verfahren zum Einsatz kommen, um spezifischere Auskünfte über den entsprechenden von der Norm abweichenden Bereich zu erlangen.
Ein deutschsprachiges Screeninginstrument ist der Fragebogen zum Athletenverhalten in kritischen Wettkampfsituationen (FAV; Baumgärtner, 2012). Erfasst werden die Merkmale emotionale Beanspruchung, Coachability, Konzentration, Leistungshandeln, Selbstvertrauen/ -wirksamkeit, Stressbewältigung und Teamfähigkeit im Kontext kritischer Wettkampfsituationen (eigene Leistung, Schiedsrichter-/Gegnerleistung, Fairness Gegner/ Zuschauer, Umwelt) (Hänsel et al., 2016). In der Auswertung des Fragebogens werden die Merkmalsausprägungen in einem Profil grafisch dargestellt. Als Normbereich gilt der Mittelwert plus/ minus eine Standardabweichung einer Normstichprobe leistungsorientierter Sportlerinnen. Mit Ausnahme des ersten Items emotionale Beanspruchung ist eine hohe Ausprägung der Merkmale erwünscht. Bei einer negativen Abweichung eines Werts vom Normbereich kann eine tiefgehendere anschließende Diagnostik sinnvoll sein.
G. Sportpsychologie in der Praxis
Psychologie ist ein integraler Bestandteil des Sports. Voraussetzung einer effektiven sportpsychologischen Betreuung ist - zunächst unabhängig von ihrem Ziel - die sportpsychologische Diagnostik zur Erfassung von Personenmerkmalen, die zum Verständnis des Verhaltens und Erlebens der Sportlerin beitragen. Zur Erhebung der entsprechenden Merkmale stehen während des diagnostischen Prozesses methodisch verschiedene Verfahren zur Verfügung. Zu ihnen gehören das explorative Gespräch, die Verhaltensbeobachtung sowie (sport-)psychologische Tests. Um eine ausreichende Güte der Diagnostik zu gewährleisten, sind standardisierte Testverfahren zu bevorzugen. In der Eingangsdiagnostik bieten sich zudem Screeninginstrumente als zeit- und kostengünstige Alternative zu Testbatterien an, um einen globalen ersten Überblick zu gewinnen.
Erst auf Grundlage eines diagnostischen Urteils sollten konkrete und sinnvolle Interventionen geplant, Entscheidungen in Selektionsprozessen getroffen und Prognosen gemacht werden. Um die Wirksamkeit von Interventionen zu überprüfen, sollte die Diagnostik im Sinne einer Verlaufskontrolle regelmäßig wiederholt werden.
Optimale sportliche Leistung ist nicht ausschließlich das Resultat außerordentlicher motorischer und technischer Fähig- und Fertigkeiten. Auch das Erleben und Verhalten einer Sportlerin tragen zum sportlichen Erfolg bei. Grundlage jeglicher sportpsychologischer Betreuung ist die sportpsychologische Diagnostik. Je nach Ziel können unterschiedliche Strategien und Methoden zum Einsatz kommen, anhand derer eine Diagnose oder Prognose gebildet werden kann. Nur so kann eine individualisierte und zielführende sportpsychologische Intervention gewährleistet werden.
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