Text: Judith Begiebing | Sparring: Pat Preilowski | Korrektorat: Leon Cassian Hammer | Stimme: Friederike Niermann |
- Unter Antizipation wird die gedankliche Vorwegnahme eines Ereignisses verstanden
- In der Antizipationsforschung kann zwischen zeitlicher Verschlusstechnik, räumlicher Verdeckungstechnik, deren Kombination, Blickbewegungsmessungen sowie virtuellen Realitäten unterschieden werden
- Implizite Instruktionen bei einem videobasierten Antizipationstraining scheinen im Hinblick auf Stresssituationen vorteilhaft zu sein
A. Antizipation
Sportlerinnen, die in Bruchteilen einer Sekunde beispielsweise auf einen 190km/h schnellen Tennisballaufschlag reagieren können, verdanken ihre Fähigkeiten nicht ausschließlich einer außerordentlichen (visuellen) Wahrnehmung. Durch Antizipationsprozesse können räumlich-zeitliche Einschränkungen umgangen werden. Antizipation bezeichnet die „gedankliche Vorwegnahme eines (Bewegungs-)Ereignisses mit dem Ziel, die eigene motorische Handlung zeitlich adäquat daran ausrichten zu können“ (Zentgraf & Munzert, 2014). Sie bildet die Schnittstelle zwischen Wahrnehmung und Aufmerksamkeit.
B. Methoden in der Antizipationsforschung
Grundlegendes Verfahren zur Identifikation vorhersagerelevanter bewegungsbezogener Informationen ist das Vorführen eines Videos einer gegnerischen Bewegung (z.B. eines Tennisaufschlags) aus der Perspektive des Rückspielers. Aufgabe der Sportlerin ist es dann, beispielsweise Flugrichtung oder Schlagtyp vorherzusagen, wenn bestimmte Informationen im Video fehlen. Dabei stehen fünf methodische Vorgehensweisen zur Auswahl: die zeitliche Verschlusstechnik, die räumliche Verdeckungstechnik, eine Kombination dieser, die Blickbewegungsmessung sowie virtuelle Realitäten.

B.1 Zeitliche Verschlusstechnik (temporal occlusion)
Das Video wird zu unterschiedlichen Zeitpunkten oder in kritischen Bewegungsphasen abgebrochen, um zu ermitteln, ab wann es der Sportlerin möglich ist, Handlungseffekte wie die Schlagrichtung überzufällig gut vorherzusagen. Dabei wird die Vorhersagegenauigkeit nicht nur zu einem späteren Abbruchzeitpunkt akkurater, erfahrenen Sportlerinnen gelingt die Vorhersage des Ausgangs der gezeigten Handlung sehr viel früher als Novizinnen (z.B. Müller, Abernethy & Darrow, 2006). Ebenso scheinen erfahrene Sportlerinnen ihre Antizipation auch auf situationsbezogene und kontextuelle Informationen, wie die Positionen auf dem Feld, zu stützen (Abernethy et al., 2001).
Der Vorteil der Linkshändigkeit: Die Vorhersage der Schlagrichtung von linkshändig ausgeführten Spikes im Volleyball ist signifikant weniger akkurat als die von rechtshändig ausgeführten Spikes (Loffing et al., 2012). Erfahrene Spielerin scheinen dabei vom Einfluss der Händigkeit auf ihre Antizipationsfähigkeit mehr betroffen zu sein als Anfängerinnen.
B.2 Räumliche Verdeckungstechnik (spatial/event occlusion)
Um zu untersuchen, welche der Informationsquellen für die Vorhersage relevant sind, werden bestimmte Bereiche im Video unkenntlich gemacht (z.B. Rumpf, Schläger, Ball). Jackson und Mogan (2007) stellten in einer Studie an erfahrenen und unerfahrenen Tennisspielerinnen fest, dass die Expertinnen auch in diesem Paradigma eine signifikant bessere Vorhersageleistung zeigten als die Novizinnen. Die Antizipationsleistung der erfahrenen Spielerinnen verschlechterte sich allerdings in den Videos signifikant, in denen der Ball oder der Schlagarm und Schläger unkenntlich gemacht worden waren. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass diese Bereiche wichtige Informationen für die Vorhersage des Handlungsausgangs enthalten.
B.3 Kombinierte Raum- und Verschlusstechnik
Die zeitliche Verschlusstechnik und räumliche Verdeckungstechnik können kombiniert werden. Auf diese Weise kann ermittelt werden, welche Informationen einer Bewegung zu welchem Zeitpunkt relevant für die Antizipation sind. Beispielsweise scheinen im Badminton zu Beginn der Schlagbewegung (bis 160ms vor Ballkontakt) der Rumpf, später Arm und Schläger (bis Ballkontakt) die wichtigsten Informationsquellen für die Antizipation darzustellen (Hagemann & Strauß, 2006).
B.4 Blickbewegungsmessung (eye-tracking)
Durch die Messung der Blickbewegungen von Sportlerinnen können Rückschlüsse auf die wichtigsten Informationsquellen gezogen werden. Längere und häufigere Blickfixationen scheinen eine höhere Relevanz für die Antizipation zu haben. Ebenso kann abgeleitet werden, welche Information zu welchem Zeitpunkt wichtig zu sein scheinen. Beispielsweise stellten Savelsbergh et al. (2002) fest, dass erfahrene Torhüter eine bessere Antizipationsleistung zeigten als Novizen und ihre Blickfixierungen sich auf Beine und Ball konzentrierten, während Novizen vermehrt Rumpf, Arme und Hüften fixierten. Im Gegensatz dazu konnten Abernethy und Russel (1987) keine Unterschiede in den Blickfixierungen von Badmintonspielerinnen feststellen, woraus die Autoren schlossen, dass die bessere Vorhersageleistung der Expertinnen auf eine bessere Nutzung der erhaltenen Informationen und nicht auf eine bessere Blickstrategie zurückzuführen sei. Bis heute ist nicht eindeutig geklärt, ob die bessere Antizipationsleistung von erfahrenen Sportlerinnen auf Unterschiede im visuellen Suchverhalten oder in der Informationsverarbeitung zurückzuführen ist.
B.5 Virtuelle Realitäten
Der Vorteil virtueller Realitäten liegt in der wirklichkeitsnäheren dreidimensionalen Präsentation der Situation. Sie können mit einem Bewegungsmesssystem kombiniert werden, das kinematische Bewegungsparameter wie beispielsweise die Abwehrreaktion einer Torhüterin aufzeichnet.
C. Training der Antizipation
Die unter B.1 und B.2 vorgestellten Okklusionstechniken können auch im Training der Antizipationsfähigkeit zum Einsatz kommen. Beispielsweise kam bei Hopwood et al. (2011) eine zeitliche Verschlusstechnik zum Einsatz. Bei erfahrenen Cricket-Spielern, welche neben dem gewöhnlichen Cricket-Training ein entsprechendes Antizipationstraining erhalten hatten, kam es - im Gegensatz zur ausschließlich sportmotorisch trainierenden Kontrollgruppe - zu einem größeren Leistungsanstieg sowohl in einem videobasierten Entscheidungstest als auch in einem Feldtest.
Das Antizipationstraining kann jedoch auch in Form von Instruktionen erfolgen, wobei sich die Frage der effektivsten Instruktionsmethode stellt. Im Wesentlichen bezieht sich die Diskussion dabei auf die implizite oder explizite Vermittlung der für die Antizipation wesentlichen Bewegungsmerkmale. Eine Verbesserung der Antizipationsfähigkeit konnte sowohl nach einem videobasierten Training mit expliziten als auch impliziten Instruktionen festgestellt werden (z.B. Abernethy et al., 2012; Farrow & Abernethy, 2002; Hagemann, Strauß & Cañal-Bruland, 2006; Poulter et al., 2005; Smeeton et al., 2005; Williams et al., 2002). Unter Stresseinwirkung und damit relevant für Wettkampfsituationen scheint das implizite Lernen hingegen von Vorteil zu sein (Abernethy et al., 2012; Smeeton et al., 2005). Während für das explizite Lernen genaue Informationen über den Zusammenhang von Bewegungsmerkmalen (z.B. Schulterdrehung, Schläger- /Handhaltung) und Schlag- /Wurfrichtung gegeben werden, umfasst eine Methode des impliziten Lernens die sogenannte guided discovery. Die Aufmerksamkeit wird hier durch farbliche oder verbale Hinweise auf wichtige Bewegungsmerkmale gelenkt, ohne allerdings Hinweise auf ihre Handlungseffekte zu geben.
D. Wer kann in die Zukunft sehen?
Die Antizipation bildet die Schnittstelle zwischen Wahrnehmung und Aufmerksamkeit und dient der Überwindung von räumlich-zeitlichen Einschränkungen im Sport. Profisportlerinnen zeichnen sich durch eine bessere Antizipationsfähigkeit aus als Novizinnen, was auf eine bessere visuelle Blickstrategie und/ oder eine effizientere Informationsverarbeitung zurückzuführen sein könnte. Um Bereiche mit vorhersagerelevanten Informationen, sogenannte information rich areas, zu identifizieren, kommen in der Forschung zeitliche, räumliche und kombinierte Verschlusstechniken, Blickbewegungsmessungen sowie virtuelle Realitäten zum Einsatz. Im Rahmen eines Antizipationstrainings können sich die Verschlusstechniken zunutze gemacht werden, oder Instruktionen mit Hinweisen auf Bewegungsmerkmale zur Anwendung kommen. Bei letzteren scheint die Methode des impliziten Lernens insbesondere unter Einfluss von Stress - wie es in sportlichen Wettkämpfen in der Regel der Fall ist - von Vorteil zu sein und dem expliziten Lernen hinsichtlich der Antizipationsleistung überlegen zu sein.
Auch wenn die Fähigkeit zur Antizipation im sportmotorischen Training ohnehin geschult wird, kann ein zusätzliches Antizipationstraining zur Anwendung kommen. Anhand eines (gegebenenfalls videobasierten) Trainings kann die Antizipationsleistung bei Sportlerinnen verbessert werden, indem die Aufmerksamkeit auf information rich areas gelenkt wird und der Zusammenhang zwischen Bewegungsmerkmalen und Handlungseffekten selbstständig erarbeitet wird.
Literatur
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- Hagemann, N., Strauss, B., & Cañal-Bruland, R. (2006). Training Perceptual Skill by Orienting Visual Attention. Journal of Sport & Exercise Psychology, 28(2), 143–158.
- Hopwood, M. J., Mann, D. L., Farrow, D., & Nielsen, T. (2011). Does Visual-Perceptual Training Augment the Fielding Performance of Skilled Cricketers? International Journal of Sports Science & Coaching, 6(4), 523–535. https://doi.org/10.1260/1747-9541.6.4.523
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- Savelsbergh, G. J., Williams, A. M., Van der Kamp, J., & Ward, P. (2002). Visual search, anticipation and expertise in soccer goalkeepers. Journal of sports sciences, 20(3), 279–287. https://doi.org/10.1080/026404102317284826
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- Williams, A. M., Ward, P., Knowles, J. M., & Smeeton, N. J. (2002). Anticipation skill in a real-world task: measurement, training, and transfer in tennis. Journal of experimental psychology. Applied, 8(4), 259–270. https://doi.org/10.1037//1076-898x.8.4.259
- Zentgraf, K., & Munzert, J. (2014). Kognitives Training im Sport. Hogrefe.