Text: Judith Begiebing | Sparring: Pat Preilowski | Korrektorat: Leon Cassian Hammer | Stimme: Friederike Niermann |
- Das Linsenmodell nach Brunswik ist ein theoretisches Modell, anhand dessen die Entstehung von Urteilen, bei unzureichender Verfügbarkeit der für die Beurteilung einer Variable relevanten Informationen, erklärt werden kann
- Die normativen Wert-Erwartungs-Theorien, denen zufolge bei Entscheidungen die Option mit dem höchsten Wert gewählt werde sollte, wurden durch Subjektivierung zu deskriptiven Nutzen-Theorien weiterentwickelt
- Heuristiken sind bei Entscheidungen zum Einsatz kommende vereinfachende Regeln und können der Erklärung von Entscheidungen unter Zeitdruck oder bei eingeschränktem Wissen dienen, wobei die Vernachlässigung von Informationen zu systematischen Verzerrungen (Biases) führen kann
A. Urteils- und Entscheidungsforschung in Theorie und Praxis
Urteile und Entscheidungen sind im Sport allgegenwärtig: Sportlerinnen (”Pass oder Torschuss?”), Trainerinnen (”Auswechseln oder nicht?”) und Schiedsrichterinnen (”gelbe Karte oder weiterspielen lassen?”) müssen urteilen beziehungsweise entscheiden. Diese kognitiven Prozesse sind Teil des Denkens und dienen der Informationsverarbeitung. Sie erlauben das Handeln an die Erfordernisse der Umwelt anzupassen. Der folgende Beitrag widmet sich einigen Theorien, die versuchen, die Prozesse des Urteilens und Entscheidens anhand allgemeingültiger Mechanismen zu erklären. Sie können dazu dienen, Urteile und Entscheidungen zu verstehen und gegebenenfalls zu verbessern. In bestimmten Bereichen, so auch im Sport, ist die Forschung aber eher phänomenorientiert ausgerichtet, es wird also nicht versucht, die Gültigkeit einer Theorie zu testen, sondern beobachtete Phänomene anhand bestehender oder neu entwickelter Theorien zu erklären. Die (sport-)psychologische Forschung liefert Belege für Urteilsverzerrungen und identifiziert Faktoren, die Urteile und Entscheidungen beeinflussen. Einige in diesem Zusammenhang auftretende sportrelevante Phänomene werden ebenso wie die Vorstellung von vier Vermittlungsmodellen im Entscheidungstraining in den nächsten beiden Beitrag thematisiert.
B. Urteilen
Mit dem Begriff Urteilen wird der psychologische Prozess bezeichnet, der zugrunde liegt, wenn einem Urteilsobjekt ein Wert auf einer Urteilsdimension zugeordnet und das resultierende Urteil explizit zum Ausdruck gebracht wird (Betsch, Funke und Plessner, 2011). Das getroffene Urteil kann dabei als Bewertung verstanden werden. Urteilsobjekte können unter anderem Personen, Objekte und Situationen, aber auch innere Zustände oder Aussagen sein, während die Urteilsdimension im Sinne einer dichotomen Klassifizierung (wahr oder falsch) oder differenzierten Abstufung (0 bis 100%) unterschiedlich skaliert sein kann. Für Entscheidungsprozesse sind insbesondere evaluative und prädiktive Urteile von Bedeutung. Bei evaluativen Urteilen findet die Beurteilung auf einer wertenden Dimension (z.B. positiv-negativ) statt. Bei nicht-evaluativen Urteilen findet hinsichtlich der Urteilsdimension zwar zunächst keine Bewertung statt (beispielsweise hinsichtlich der Größe einer Sportlerin), diese kann jedoch je nach Kontext auf einer weiteren evaluativen Dimension als positiv oder negativ bewertet werden (wie die Größe einer Sportlerin beim Basketball). Prädiktive Urteilen sind Wahrscheinlichkeitseinschätzungen zukünftiger Ereignisse.
Urteile beruhen in der Regel unmittelbar auf der Wahrnehmung, wobei die Prozesse der Wahrnehmung und des Urteilens meist fließend ineinander übergehen. Wahrnehmung beeinflusst das Urteilen somit, auch wenn sie nicht repräsentativ ist. Beispielsweise ist ein Großteil der Fehler bei Abseitsentscheidungen von Linienrichtern im Fußball auf eine fehlerhafte visuelle Wahrnehmung durch die Blickperspektive zurückzuführen (Oudejans et al., 2000).

B.1 Das Linsenmodell von Brunswik
Aufgrund der selektiven Wahrnehmung des Menschen stehen die für ein Urteil relevanten Informationen in der Regel nicht gänzlich zur Verfügung. Daraus resultiert, dass kein direkter Zugang zur zu beurteilenden Variable, welche auch als Kriterium bezeichnet wird, besteht. Diejenigen Informationen, welche das sensorische System passieren, verarbeitet und damit wahrgenommen werden, können aber indirekte Hinweise (cues) auf das zu beurteilende Kriterium geben.
Das auf Brunswik (1952) zurückgehende Linsenmodell bietet ein theoretisches Erklärungsmodell dafür, wie von proximalen Cues (sensorisch erfassbare Informationen) auf die distale Variable (das Kriterium) geschlossen werden kann (Abb.1). Dabei wird davon ausgegangen, dass Menschen den wahren Zustand des Kriteriums beziehungsweise der distalen Variable möglichst genau beurteilen wollen, wobei die Übereinstimmung zwischen Urteil und Kriterium als achievement bezeichnet wird. Die Kernannahme des Linsenmodells besteht darin, dass die Beziehung zwischen Cues und Kriterium probabilistisch und nicht deterministisch ist. Das bedeutet, dass zwar eine Korrelation zwischen Cues und Kriterium besteht, diese Korrelation aber nicht perfekt ist. Beispielsweise korreliert das Symptom Fieber (proximaler Cue) zwar mit dem Kriterium Grippe, die Korrelation ist aber nicht perfekt, da Fieber nicht ausschließlich in Zusammenhang mit Grippe auftritt. Das achievement oder die Leistung der Urteilerin hängt schließlich von zwei Komponenten ab: der ökologischen Validität sowie der Cue-Nutzung. Die ökologische Validität bezeichnet die Korrelation zwischen Cue und Kriterium und gibt damit an, inwieweit von den von der Urteilerin genutzten Cues tatsächlich auf das Kriterium geschlossen werden kann (mit welcher Sicherheit kann also vom proximalen Cue Fieber auf das Kriterium Grippe geschlossen werden). Im Gegensatz dazu steht die Cue-Nutzung, welche die Korrelation zwischen Cues und Urteil und damit das Ausmaß der Nutzung der Cues für das Urteil anzeigt (wird beispielsweise nur der Cue Fieber, oder auch der Cue Schmerzen im rechten Unterbauch in das Urteil mit einbezogen). Auf Grundlage des Linsenmodells können somit zwei Gründe für Fehlurteile differenziert werden: entweder werden invalide Cues für das Urteil herangezogen, oder eigentlich valide Cues werden falsch genutzt.

C. Entscheiden
Unter Entscheiden wird der Prozess des Wählens zwischen mindestens zwei Optionen, mit dem Ziel, erwünschte Konsequenzen zu erreichen und unerwünschte Konsequenzen zu vermeiden, verstanden (Betsch, Funke und Plessner, 2011). Führt der Prozess zu einer Entscheidung und damit einer Wahl, wird eine Option selektiert und der Entschluss gebildet, diese zu realisieren, etwa eine Handlung auszuführen. Der Handlungsentschluss, also die Intention als Ergebnis der Entscheidung, muss aber nicht notwendigerweise tatsächlich zur Implementierung der Handlung führen.
Die zentralen Elemente von Entscheidungen sind Optionen, deren Konsequenzen sowie Ereignisse oder Zustände der Umwelt. Beispielsweise hat eine auf das gegnerische Tor zulaufende Fußballspielerin die Möglichkeit den direkten Torschuss zu versuchen (Option A), oder diesen zu unterlassen (Option B). Optionen sind also die zur Auswahl stehenden Alternativen. Eine Entscheidung erhält ihren Wert aber erst durch die positive oder negative Konsequenz, die der Entscheidung folgt. Für die Fußballspielerin könnte der direkte Torschuss also ein Tor zur Folge haben, bei Verzögerung des Torschusses könnte sich aber eine weitere Chance durch eine freie Mitspielerin ergeben. Allerdings bestimmen erst Ereignisse oder Zustände der Umwelt, ob eine Entscheidung tatsächlich zu Konsequenzen führt. So könnte die Torhüterin den Torschuss parieren, oder die gegnerische Abwehr ein Zuspiel verhindern. Diese Ereignisse stehen außerhalb der Kontrolle der Spielerin und sind nicht von ihr beeinflussbar.
Die Abgrenzung zwischen Urteilen und Entscheiden ist nicht immer eindeutig. Definitionsgemäß besteht der Unterschied darin, dass bei Entscheidungen eine Wahl zwischen zwei oder mehr Optionen getroffen wird (z.B. „schieße ich direkt auf das Tor oder nicht?“). Liegen keine Optionen vor, besteht keine Entscheidung (z.B. „die Spielerin liefert eine großartige Leistung“). Allerdings können Urteile Entscheidungen zugrunde liegen. Schiedsrichterinnen müssen etwa die Schwere von Fouls und anderen Vergehen beurteilen und darauf basierend eine Entscheidung (gelbe oder rote Karte) treffen.
Es existieren etwa 300 verschiedene Theorien in der Urteils- und Entscheidungsforschung, wobei nur etwa ein Dutzend davon im Sportbereich überprüft wurden (Bar-Eli, Plessner & Raab, 2011). Zwei Ansätze werden im Folgenden vorgestellt.
C.1 Wert-Erwartungs-Theorien und Nutzen-Theorien
Den klassischen Wert-Erwartungs-Theorien zufolge sollte bei Entscheidungen diejenige Option gewählt werden, die den höchsten zu erwartenden Wert aufweist. Hierfür müssen sämtliche möglichen Konsequenzen mit ihrem objektiven Wert sowie mit ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit versehen werden. Das Produkt dieser beiden Parameter wird kalkuliert und die Option mit dem höchsten Wert ausgewählt. Die Theorien des erwarteten Werts gehören den normativen Theorien an. Es wird ein Regelwerk für ideale, rationale Entscheidungen aufgestellt, in dem die Parameter (Wert, Wahrscheinlichkeit), die formale Integration (linear durch Aufaddieren der gewichteten Konsequenzen jeder Option) und die Entscheidungsregel (Maximierungsregel) festgelegt werden. Normative Theorien besagen nicht, wie Entscheidungen tatsächlich getroffen werden.
Die von Daniel Bernoulli (1954) aus der Theorie des erwarteten Werts weiterentwickelte Theorie des erwarteten Nutzens (Subjectively Expected Utility Theory, SEU-Theorie) fand durch Edwards (1954) Einzug in die Psychologie. Dabei unterscheidet sich der Nutzen vom Wert durch seine Subjektivität und Kontextabhängigkeit. Beispielsweise hat der Torschuss kurz vor Abpfiff bei unentschiedenem Spielstand einen höheren subjektiven Nutzen als bei Führung. Durch die Subjektivierung der Entscheidungstheorie entstand eine Theorie, die beschreiben soll, wie Entscheidungen tatsächlich getroffen werden, sodass die normative zu einer deskriptiven Theorie wurde.
Durch Definieren von Prinzipen rationalen Entscheidens konnte die Nutzen-Theorie nun empirisch überprüft werden. Die Forschung zeigte, dass Menschen immer wieder gegen diese Prinzipien verstoßen (vgl. Betsch, Funke und Plessner, 2011). Die Prospect Theory von Kahneman und Tversky (1979) ist eine weiterentwickelte SEU-Theorie und versucht diese Prinzipien-Verletzungen zu erklären. Dennoch setzt auch die Prospect Theory wie alle Nutzen-Theorien voraus, dass sämtliche Optionen und Konsequenzen bekannt sind und geht zudem von einem bewussten und komplexen Prozess der Informationsintegration aus, was ihren Geltungsbereich in Alltag und Sport massiv einschränkt. Auch können Nutzen-Theorien intraindividuelle Unterschiede in Entscheidungen bei gleichen Optionen und gleicher Situation nicht erklären. Heuristiken versuchen diesen Einschränkungen nachzukommen und stellen damit alltagsnähere Ansätze zur Erklärung von Entscheidungen dar.
C.2 Heuristiken
Heuristische Ansätze gehen davon aus, dass beim Treffen von Entscheidungen vereinfachende Regeln, sogenannte Heuristiken herangezogen werden. Dabei wird der Urteils- oder Entscheidungsprozess durch die Reduktion der berücksichtigten Informationen erleichtert. Heuristiken eignen sich damit auch zur Erklärung von Entscheidungen unter Zeitdruck, Unsicherheit und/ oder bei eingeschränktem Wissen, wie es auch bei Sportlerinnen der Fall ist.
C.2.1 Heuristics and Biases
Nach dem Heuristics and Biases-Ansatz von Tvervsky und Kahnemann (1974) können die bei Entscheidungsprozessen verwendete Heuristiken zwar meist zu relativ genauen Urteilen beziehungsweise Entscheidungen führen, allerdings auch systematische Verzerrungen (Biases) verursachen. Diese werden auch als kognitive Täuschungen (cognitive illusions) bezeichnet. Neben den von Tvervsky und Kahnemann als zentral erachteten Heuristiken (Verfügbarkeitsheuristik, Repräsentativitätsheuristik sowie Anker- und Anpassungsheuristik) und ihren zugehörigen Biases, wurden inzwischen weitere systematische Verzerrungen identifiziert. Pohl (2016) unterscheidet 26 solcher Biases. Mit Blick auf das Linsenmodell kommt es zu einem Bias, wenn eine Urteilerin Cues verwendet, die in Wirklichkeit nicht mit dem Kriterium korrelieren, oder die Gewichtung der Cues zugunsten von Cues ausfällt, welche nur schwach mit dem Kriterium korrelieren. Studien an Schiedsrichterinnen konnten beispielsweise zeigen, dass ihre Entscheidungen unter anderem von der Größe der Spielerinnen (van Quaquebeke und Giessner, 2010), oder der Trikotfarbe (Krenn, 2014) beeinflusst werden kann. Weitere für Urteile und Entscheidungen im Sport relevante kognitive Verzerrungen werden im nächsten Beitrag vorgestellt.
C.2.2 Adaptive Toolbox
Nach dem adaptive Toolbox-Ansatz von Gigerenzer et al. (1999) verfügen Menschen über einen „Werkzeugkasten“ mit verschiedenen bereichsspezifischen Heuristiken. Die Bereichsspezifität berücksichtigt das Verhältnis zwischen Kognition und Umwelt, das erstmals im Bounded Rationality-Ansatz (Simon, 1990) zum Tragen kam. Diesem Ansatz zufolge entsteht die Illusion zahlreicher kognitiver Täuschungen durch die Vernachlässigung der Umwelt. Beispielsweise glauben die meisten Autofahrerinnen überdurchschnittlich gut Auto zu fahren, was nicht möglich ist, da die Verteilung per definitionem symmetrisch ist. Die Selbsteinschätzung der Autofahrerinnen könnte somit als kognitive Täuschung, welcher ein übersteigertes Selbstbewusstsein zugrunde liegt, interpretiert werden. Wird die Fertigkeit des Autofahrens aber über die Anzahl der Unfälle definiert - und damit die Struktur der Umwelt mit einbezogen -, ist die Verteilung nicht mehr symmetrisch, sondern linkssteil, mit einem aufgrund einiger Ausreißer rechts vom Median liegenden arithmetischen Mittel (vgl. Gigerenzer & Gaissmaier, 2006). Der Großteil der Autofahrerinnen hat also keine oder sehr wenige Unfälle, der Durchschnitt wird durch einige wenige Autofahrerinnen mit vielen Unfällen aber nach oben gezogen. Somit haben die meisten Fahrerinnen weniger Unfälle als die durchschnittliche Unfallanzahl pro Autofahrerin, womit tatsächlich mehr als die Hälfte der Autofahrerinnen besser als der Durchschnitt sind. Der Adaptive-Toolbox-Ansatz fokussiert sich im Gegensatz zum Heuristics and Biases-Ansatz also nicht auf das Verhältnis von Kognition und Logik und damit auf die Fehlerhaftigkeit menschlicher Urteile, sondern auf das Verhältnis zwischen Kognition und Umwelt.
Sämtliche Heuristiken werden von drei Prinzipien bestimmt: die zur Verfügung stehenden Cues werden nach einer spezifischen Regel durchsucht (search rule), anschließend wird diese Suche nach einer bestimmten Regel wieder beendet (stop rule). Anhand einer Entscheidungs-Regel wird schließlich die Entscheidung getroffen (decision rule). Es können verschiedene Klassen von Heuristiken unterschieden werden, darunter die Rekognitionsheuristik, die Take-the-Best-Heuristik sowie die Take-The-First-Heuristik, die im Folgenden genauer erläutert werden.
C.2.2.1 Rekognitionsheuristik
Bei der Rekognitionsheuristik umfasst die search rule die Suche nach einer bekannten Option. Sobald diese gefunden ist, wird die Suche gestoppt und die entsprechende Option ausgewählt. Bei wenig vorhandenem Wissen kann diese Heuristik zu guten Ergebnissen führen.
C.2.2.2 Take-The-Best-Heuristik
Die Take-The-Best-Heuristik kann der Erklärung des Entscheidungsverhaltens von Sportlerinnen dienen. Bei dieser Heuristik werden nach ihrer Validität geordnete Cues so lange abgearbeitet, bis ein Hinweisreiz gefunden ist, der eine Differenzierung der beiden Optionen ermöglicht. Darauf basierend wird dann die Entscheidung getroffen.
C.2.2.3 Take-The-First-Heuristik
Die von Johnson und Raab (2003) vorgeschlagene Take-The-First-Heuristik dient der Erklärung von Entscheidungen in Situationen, in denen die Entscheidungsalternativen nicht klar definiert sind und berücksichtigt auch den Prozess der Generierung von Optionen. Demnach wird in bekannten, aber hinsichtlich der Optionen nicht genau definierten Situationen, eine der ersten generierten Optionen gewählt. Die Heuristik nimmt an, dass eine festgelegte Strategie gemeinsam mit den aktuell bestehenden Umweltfaktoren bestimmt, welche Optionen durch das assoziative Gedächtnis generiert werden. Im Sportkontext kommt dabei entweder eine räumliche (z.B. wenn Situation A, dann öffne das Spiel nach rechts) oder funktionelle (z.B. wenn Situation A, dann schieße direkt) Strategie zur Anwendung.
D. Urteilen und Entscheiden: rational oder einfach?
Sportliches Handeln wird direkt oder indirekt durch Urteile und Entscheidungen beeinflusst, wobei Urteile Entscheidungen zugrunde liegen können. Anhand des Linsenmodells von Brunswik kann erklärt werden, wie mittels proximaler Hinweisreize ein distales Kriterium beurteilt werden kann. Fehlurteile können dem Modell zufolge aus einer unzureichenden ökologischen Validität der verwendeten Hinweisreize oder einer falschen Cue-Nutzung resultieren. Beim Entscheiden wird zwischen zwei oder mehreren Optionen gewählt. Den Wert-Erwartungs-Theorien zufolge sollte die Entscheidung zugunsten der Option mit dem höchsten zu erwartenden Wert fallen. In der Nutzen-Theorie wurde der Wert durch den subjektiven und kontextabhängigen Nutzen ersetzt. Jedoch konnte in Studien aufgezeigt werden, dass bei menschlichen Entscheidungen gegen die rationalen Prinzipien des Entscheidens verstoßen wird. Heuristiken vertreten hingegen den Ansatz, dass beim Treffen von Entscheidungen vereinfachende Regeln zum Einsatz kommen. Diese umfassen die search rule, anhand derer die zur Verfügung stehenden Hinweisreize durchsucht werden, die stop rule, nach der die Suche beendet wird und die decision rule, anhand derer die Entscheidung getroffen wird. Die Take-the-Best- sowie die Take-The-First-Heuristik können der Erklärung des Entscheidungsverhaltens von Sportlerinnen dienen. Dennoch kann die Reduktion der für die Entscheidung verwendeten Informationen zu systematischen Verzerrungen, sogenannten Biases führen.
Es kann nicht pauschalisiert werden, dass Entscheidungen immer auf Grundlage von Heuristiken getroffen werden, oder stets alle relevanten Informationen berücksichtigt werden. Sportsituationen verlangen häufig schnelle Entscheidungen, wobei die Take-The-Best- sowie die Take-The-First-Heuristik zum Einsatz kommen können, welche mit qualitativ guten Entscheidungen einherzugehen scheinen. Auch Persönlichkeitsdispositionen können das Entscheidungsverhalten beeinflussen (mehr dazu im Beitrag “Selbstregulation im Sport”).
Literatur
- Bar-Eli, M., Plessner, H. & Raab, M. (2011). Judgement and decision-making and success in sport. London, United Kingdom: Wiley Press.
- Bernoulli, D. (1954) Exposition of a New Theory on the Measurement of Risk. Econometrica, 22, 23-36.
- Betsch, T., Funke, J., & Plessner, H. (2011). Denken – Urteilen, Entscheiden, Problemlösen. Heidelberg: Springer.
- Brunswik, E. (1952). The conceptual framework of psychology. (Int. Encycl. unified Sci., v. 1, no. 10.). Oxford: University of Chicago Press.
- Brunswik, E. (1955). Representative design and probabilistic theory in a functional psychology. Psychological Review, 62(3), 193–217. https://doi.org/10.1037/h0047470
- Edwards, W. (1954). The theory of decision making. Psychological Bulletin, 51(4), 380–417. https://doi.org/10.1037/h0053870
- Gigerenzer, G., & Gaissmaier, W. (2006). Denken und Urteilen unter Unsicherheit: Kognitive Heustiken. In J. Funke (Ed.), Denken und Problemlösen (pp. 329-374). Göttingen [et al.]: Hogrefe.
- Gigerenzer, G. Todd, P. M., & the ABC Research Group. (1999). Simple heuristics that make us smart. New York: Oxford University Press.
- Johnson, J. G., & Raab, M. (2003). Take The First: Option-generation and resulting choices. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 91(2), 215–229. https://doi.org/10.1016/S0749-5978(03)00027-X
- Kahneman, D., & Tversky, A. (1979). Prospect theory: An analysis of decision under risk. Econometrica, 47, 263–291.
- Krenn, B. (2014). The impact of uniform color on judging tackles in association football. Psychology of Sport and Exercise, 15(2), 222–225. https://doi.org/10.1016/j.psychsport.2013.11.007