Text: Leon Cassian Hammer | Sparring: Pat Preilowski | Korrektorat: Pat Preilowski | Stimme: Friederike Niermann |

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Im Sprint

- Die Regulation sämtlicher Komponenten einer Bewegung wird als Bewegungskontrolle bezeichnet, wobei neben dem muskuloskelettalen System, das Nervensystem und externe Einflüsse involviert sind

- Ein theoretisches Fundament wie das “ecological dynamics framework” erlaubt eine differenzierte Betrachtung von Motorik und motorischen Lernprozessen

- Bewegung entsteht aus einem Zusammenspiel von Aufgabe, Individuum und Umwelt und stellt den Output eines emergenten System dar

A. Was ist Bewegungskontrolle?

Bewegungskontrolle bezeichnet die Fähigkeit, die Komponenten einer Bewegung zu regulieren – dazu gehört die Lenkung und Anpassung aller involvierten bekannten sowie unbekannten Mechanismen und Einflüsse.

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Motorik 1: Theorien der Bewegungskontrolle
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Neben den offensichtlichen mechanischen Akteuren wie dem muskuloskelettalen System, ist auch das Nervensystem involviert, welches maßgeblich an der sensorischen sowie motorischen Reizverarbeitung beteiligt ist. Aber auch externe Faktoren, wie Einflüsse aus der Umwelt oder der zu erledigenden Aufgabe selbst, sowie weniger offensichtliche Komponenten wie die Selbstwahrnehmung der Sportlerin, sind in der Entstehung und Kontrolle von Bewegungen involviert.

Mit diesem Hintergrund untersucht das entsprechende Forschungsfeld die Hintergründe dieser Komponenten, sowie die Entstehung und Kontrolle von Bewegungen selbst.

B. Ein theoretisches Fundament

Im Verlauf der Forschung traten in den letzten Jahrzehnten diverse Theorien hervor, welche sich untereinander beeinflussten, widersprachen und weiterentwickelten. Dabei ist wichtig zu beachten, dass keine Theorie alle Faktoren perfekt berücksichtigt und das Forschungsfeld gegenwärtig in einem dynamischen Entwicklungsprozess steht. Demzufolge gibt es keine absolute dominierende Theorie, welche alle Komponenten von Bewegungen berücksichtigt.

Um Motorik dennoch ganzheitlich zu betrachten, sollte ein theoretisches Fundament genutzt werden, welches möglichst viele Elemente der Bewegungskontrolle berücksichtigt. Zudem sollte Raum für die Interpretation von Abläufen gelassen werden, welche noch nicht gänzlich verstanden oder erforscht worden sind.

Eine solche Theorie kann anschließend in der Praxis genutzt werden, um ein Gerüst für die Interpretation von Bewegungen und Verhalten von Sportlerinnen zu bieten und so den eigenen Werkzeugkasten für Rehabilitation und Training zu formen. Im Folgenden werden verschiedene Theorien sowie ihre Entwicklung vorgestellt.

B.1 Reflex Theorie

Die Reflex-Theorie geht auf Sherringtons Forschung der frühen 1900er-Jahre zurück. Reflexe werden im Rahmen dieser Theorie als Bausteine für motorisches Verhalten angesehen, sodass dieser Ansicht nach der kombinierte Start und Stopp mehrerer Reflexe zu komplexen Bewegungen führen kann. So ist es möglich, dass sowohl innere als auch äußere Reize durch ihre reflektorische Wirkung Bewegungen erwirken können.

Limitierend an dieser Theorie ist, dass sie keine Erklärung für bewusste Bewegung gibt. In ihrem Rahmen bildet Reizung durch sensorischen Input die Grundvoraussetzung für einen Reflex und infolgedessen für Bewegung.

Zudem erklärt die Theorie nicht, warum einige Bewegungen schneller ablaufen, als es die sensorische Verarbeitung ermöglicht, wie es beispielsweise bei Landungen nach Sprüngen der Fall ist. Zuletzt bleibt auch die Frage offen, weshalb die Möglichkeit besteht, dass der gleiche Stimulus unterschiedliche Antworten erwirken kann.

B.2 Hierarchische Theorie

Ebenfalls wurde die hierarchische Theorie zu Beginn des 19. Jahrhunderts begründet. Diese Theorie betrachtet nicht länger allein Reflexe als Grundlage für motorisches Verhalten, sondern die Steuerung dieser durch zentrale Prozesse. Anhand eines hierarchischen Aufbaus, an dessen Spitze das Gehirn steht, wird erklärt, dass Reflexe die unterste Ebene bilden und von oben herab kontrolliert werden. Auf diese Weise soll das funktionelle Gleichgewicht des motorischen Systems gewährleistet werden. Besonders für die kindliche Entwicklung wurde ein entsprechender neuronaler Reifungsprozess (”maturational theory of child development” nach Gesell) als Erklärung genommen, welcher dieser Hierarchie folgt.

Limitierend für diesen Ansatz ist, dass er nicht erklären kann, wieso bestimmte Reflexe, wie insbesondere solche schützender Natur, auch noch nach der neuronalen Reifung bestehen und somit das motorische Verhalten durch die unten stehende Reflexebene dominiert werden kann.

Die Theorie bot nach den 40er-Jahren den Nährboden für unterschiedliche Konzepte der neuromuskulären Fazilitation wie PNF oder Bobath, welche bis heute im Bereich der Neurorehabilitation präsent sind. Allerdings entwickelten sich diese teilweise im Verlauf, aufgrund der Limitationen der Theorie, weiter, sodass die Wirksamkeit der unteren Ebenen nicht länger ignoriert wird und Reflexe als ein Faktor von vielen innerhalb der motorischen Kontrolle betrachtet werden.

Zudem konnte dieser Ansatz bis heute zeigen, dass Störungen des zentralen Nervensystems Auswirkungen auf die peripheren motorischen Programme sowie Reflexe haben kann.

B.3 Motorprogramm Theorie

Die Theorie der Motorprogramme wurde zwischen den 60er- und 80er-Jahren entwickelt. Sie stellt nicht länger die Reaktion auf äußere Reize in den Vordergrund, sondern die Physiologie der selbst initiierten Handlungen. Die Theorie postuliert als Hauptbestandteil, dass zentral vorprogrammierte komplexe motorische Muster, also solche mit mehreren beteiligten Muskeln, auch ohne eine sensorische Afferenz ablaufen können und nennt diese “central motor pattern”.

Diese Vorstellung wurde auch durch unterschiedliche Tierexperimente unterstützt. Sie zeigten auf, dass Bewegung ohne sensorischen Input, wenn auch nur verlangsamt, ablaufen konnte. Die Sensorik, sowie die Reflexe, galten also eher der Optimierung von Bewegung, anstatt ihre Voraussetzung zu bilden.

Weitere Tierexperimente konnten zeigen, dass sich sogenannte “central pattern generators” (CPGs) im Rückenmark, sowie im Gehirn befinden und diese von dort aus zentral vorprogrammierte motorischen Muster initiieren. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um autarke Strukturen, sondern um spezialisierte Nervenzellnetzwerke, welche in der Lage sind, rhythmische Kontraktionen selbstständig einzuleiten.

Limitierend wirkt an dieser Theorie, dass ein Motorprogramm nicht als einzig bestimmender Faktor betrachtet werden sollte. Umweltbezogene und körpereigene Einflüsse können bei Ausführung des gleichen Motorprogramms zu unterschiedlichen Bewegungen führen.

Die Theorie war besonders prägend für die weitere klinische Anwendung, da sie zeigt, dass es förderlicher für das motorische System sein könnte, zusammenhängende Aufgaben zu trainieren. Dies ermöglicht eine Förderung des gesamten Programmes, anstatt nur einzelne Muskeln isoliert zu trainieren – ein Ansatz, welcher bis heute funktionelles, aufgabenbezogenes Training prägt.

B.4 Systemtheorie im motorischen Kontext

Einen deutlich anderen Ansatz verfolgte der russische Physiologe und Biomechaniker Nikolai Alexandrowitsch Bernstein zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Integration der Systemtheorie in die motorische Forschung. Die Systemtheorie stammt dabei aus dem mathematischen Raum, wird mittlerweile allerdings interdisziplinär verwendet, um Vorhersagen für komplexe Sachverhalte zu treffen.

Trotz dieser frühen Erkenntnisse, wurde die Theorie erst in den späten 80er-Jahren im westlichen Raum erforscht. Möglicherweise waren sprachliche sowie politische Barrieren hinderlich an einer früheren Integration in den westlichen Sprach- und Forschungsraum.

Bernstein postuliert, dass Bewegung nicht ohne ein Verständnis über das bewegte System verstanden werden kann. Dabei wird der gesamte Körper als mechanisches System betrachtet, das sowohl inneren als auch äußeren Einflüssen unterliegt, welche zudem in gegenseitiger Wechselwirkung stehen. Diese Vielfalt an Einflüssen führt dazu, dass im System eine Vielzahl an Freiheitsgrade vorliegen können, die im Rahmen von Bewegungen kontrolliert werden müssen. Daher agieren auch die ausgeführten Bewegungsprogramme nicht in einem Vakuum, sondern unterliegen den gleichen Einflüssen, was zu einer Diskrepanz aus Bewegungssteuerung und Bewegungsausführung führen kann.

Die Bewegungskoordination hat dabei die selbstregulatorische Aufgabe, die redundanten Freiheitsgrade durch Synergien der Bewegungskomponenten zu kontrollieren. Durch dieses Zusammenspiel der einzelnen Komponenten entsteht also ein System, welches in der Lage ist, das “degrees of freedom” Problem selbstständig zu lösen, ohne dabei auf zentrale Steuerungsprozesse angewiesen zu sein – es organisiert sich, innerhalb der Bewegung, selbst.

Dabei geht es nicht darum schlichtweg Variabilität zu eliminieren, sondern diese zu nutzen, um stabile und flexible Bewegungslösungen zu entwickeln.

Eine weitere Erkenntnis, welche aus dieser Theorie gezogen werden kann ist, dass die Veränderung eines kritischen Parameters des Systems zur völligen Änderung des Bewegungsablaufes führt. Ähnlich wie 1 °C den Übergang vom Aggregatzustand flüssig zu gasförmig ermöglicht, kann eine Veränderung in der Bewegungsgeschwindigkeit einen Übergang vom Gang in den Lauf hervorbringen.

Zudem beschreibt die Theorie Variabilität in der Bewegung, nicht länger als Störfaktor, sondern als Grundlage für eine optimale Funktion, um auf die Beeinflussung von Bewegung zu reagieren. Dementsprechend sollten Sportlerinnen, darin gefördert und ermutigt werden, variable Erfahrungen zu machen und so auf unterschiedlichen Wegen zu Bewegungserfolge zu kommen.

Entscheidend an der Systemtheorie ist die Erkenntnis, dass das Nervensystem nicht länger der alleinige Hauptakteur in der Entstehung von Bewegungen ist. Stattdessen resultieren diese aus dem dynamischen Zusammenspiel aller Systemkomponenten.

B.5 Ökologische Theorie als Erweiterung der Betrachtung von Wahrnehmung

In den 1960er-Jahren von Eleanor und James Gibson begründet, sticht diese Theorie aus den bisher betrachteten, heraus: Anstelle die physiologische Entstehung von Bewegungen zu betrachten, wurde der kognitive Ursprung von Motorik untersucht.

Die Forschung richtete sich darauf, wie Handlungsmöglichkeiten in der Umwelt die motorischen Abläufe beeinflussen. Dabei wurde die Idee, dass Bewegungen nur im Kontext der Umwelt verstanden werden können, zum Kernelement der Theorie. Das eingebettete sensorische System stellt demnach nicht allein die Grundlage für die motorischen Handlungen, sondern die anschließende Wahrnehmung handlungsrelevanter Informationen. Um das menschliche Verhalten sowie Bewegungen zu analysieren, müssen daher kontinuierlich die Interaktionen von Organismus und Umwelt berücksichtigt werden.

Bedingungen der Umwelt stellen dabei Leitplanken, welche aufgrund ihrer unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten nur ein bestimmtes Repertoire an Bewegungen zulassen und somit Handlungsoptionen reduzieren. Erst auf diese Weise entstehen Verhaltensweisen, die durch das Zusammenwirken von Organismus und Umwelt entstehen.

Diese Überlegungen stehen in einem klaren Kontrast zu traditionellen hierarchischen Ansätzen, in welchen das sensorische System Informationen aufnimmt und für die zentrale Verarbeitung bereitstellt. Außerdem wird im Rahmen dieser Theorie nicht länger nur das Bewegungssystem selbst betrachtet, sondern auch die Umwelt sowie die wechselseitigen Beziehung zwischen beiden.

Um die Förderung dieses Prozesses zu gewährleisten, ist es für Sportlerinnen wichtig, reichhaltige Informationen und Möglichkeiten für die Bewegungsorganisation in einem realitätsnahen Kontext aufzunehmen.

C. Komponenten der motorischen Kontrolle

Der bisherige Forschungsprozess verdeutlicht, dass die Entstehung von Bewegung kein eindimensionaler Prozess ist.

Bewegung entsteht dabei aus dem Zusammenspiel der zu bewältigenden Aufgabe, dem Individuum sowie der Umwelt.

Auf Seiten der Aufgabe können Faktoren wie die erforderte Mobilität oder Geschwindigkeit, aber auch die Komplexität der Aufgabe selbst zu unterschiedlichen Prozessen führen.

Die Sportlerin wird dabei wiederum durch ihre physischen Kapazitäten, sowie ihre kognitiven Prozesse, wie insbesondere Erfahrungen und Emotionen, beeinflusst. Ebenso können Umwelteinflüsse vielfältig wirken, sodass selbst das Wetter einen Effekt auf die Bewegung haben kann.

Zusammenspiel der Komponenten in motorischen Prozessen (nach Shumway-Cook, Woollacott, 2017)

Besonders die Systemtheorie verdeutlicht, dass die Entstehung von Bewegung aus einem System mit emergenten Eigenschaften geschaffen wird und dementsprechend die isolierte Betrachtung sowie das Training einzelner Komponenten wenig zielführend ist. Analog dazu kann ein Vogelschwarm auch nicht schneller fliegen, wenn ein einzelner Vogel die Kapazität für derartige Handlungen besitzt.

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“Emergenz” beschreibt das universelle Phänomen, dass aus dem interaktiven Zusammenschluss einzelner Komponenten ein System mit neuen Eigenschaften entstehen kann. Der Wissenschaftskanal „Kurzgesagt“ beschreibt dies sehr treffend mit dem Satz „Emergenz ist Komplexität, die aus Einfachheit “.

Deswegen ist es nur schwer oder gar nicht möglich, ein komplexes System zu verstehen, indem nur individuelle Komponenten betrachtet werden. Im Gegensatz dazu stehen komplizierte Systeme wie unter anderem Computer, welche zwar kompliziert zu verstehen sind, jedoch mit dem nötigen Fachwissen eine Vorhersage, über die Auswirkungen einer Programmierung, erlauben.

Sollte eine Sportlerin Probleme bei einer Kniebeuge haben, so ist es nicht möglich diese zu analysieren, wenn lediglich die Kniegelenke betrachtet werden. Die Sportlerin selbst stellt dabei ein komplexes System dar, während das Kniegelenk eine Komponente in diesem System ist. Es bedarf einer ganzheitlichen Betrachtung, welche unter anderem Komponenten wie das restliche neuromuskuloskelettales System der Sportlerin, ihren kognitiven Zustand oder auch ihre Umwelt in die Betrachtung mit einschließt. Selbst mit einer solchen Betrachtungsweise bleibt es schwierig alles zu beachten, da viele Komponenten nicht bekannt sind und Emergenz nicht immer vorhersagbar ist.

D. Motorik offen betrachten

Wie eingangs erwähnt, sollte für die Arbeit mit Sportlerinnen eine theoretische Grundlage gewählt werden, welche die Betrachtung möglichst vieler Komponenten mit aufnimmt, aber auch Raum für die Interpretation von Abläufen lässt, welche noch nicht gänzlich erforscht oder verstanden worden sind.

Ein wissenschaftliches Gerüst, welche diese Betrachtung ermöglicht, ist das “ecological dynamics framework”. Das Gerüst basiert auf der “Ecological Theorie” nach Gibson sowie der “Systemtheorie“ und ihrer motorischen Integration nach Bernstein. Sie verdeutlicht, warum eine voneinander isolierte Betrachtung von Individuum und Umwelt deutliche Schwächen aufzeigt.

Die Komponenten dieses Frameworks werden in den kommenden Beiträgen erläutertet, um auf diese Weise tiefere Einblicke in die Beeinflussung von Motorik zu geben, sodass eine differenzierte Betrachtung der motorischen Komponenten möglich ist.

Aufs Feld

Trainerinnen sollten sich dem Zusammenspiel aus Individuum, Aufgabe und Umwelt bei der Entstehung von Bewegungen bewusst sein. Einerseits bedeutet dies für die Praxis, dass ein Training einzelner Komponenten, wie das Dribbeln (Aufgabe) ohne gegnerische Spielerinnen (Umwelt) die Übertragbarkeit in den eigentlichen Kontext erschwert. Andererseits kann durch die Veränderung einzelner Komponenten (z.B. Veränderung der Umwelt durch ein kleineres Spielfeld) Einfluss auf die Bewegung genommen werden.

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