Text: Leon Cassian Hammer | Sparring: Pat Preilowski | Korrektorat: Pat Preilowski | Stimme: Friederike Niermann |
- Schmerzen sind eine subjektive Erfahrung, welche durch biopsychosoziale Faktoren beeinflusst werden kann
- Schmerzen können eine Schutzfunktion erfüllen, müssen aber nicht zwangsläufig mit Gewebeschäden einhergehen
- Das Mature Organism Model (MOM) veranschaulicht die Komplexität von Schmerzen und berücksichtigt Input-, Verarbeitungs- und Output-Mechanismen
A. Was bedeutet es Schmerzen zu haben?
Die internationale Assoziation der Schmerzforschung (IASP) definiert Schmerz als unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die mit tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschäden einhergeht.
Wie auch andere Sinneswahrnehmung erfüllt Schmerz eine Funktion. In diesem Fall handelt es sich um eine Schutzfunktion, welche physiologisch betrachtet alarmieren soll, um so Gewebeschäden zu verhindern, beziehungsweise zu begrenzen. Durch die Verarbeitung sowie Interpretation von vorwiegend neuro-immunologischen Signalen wird die Interpretation möglicher Gefahrensituationen ermöglicht.
Die Wahrnehmung von Schmerzen kann dabei nicht ausschließlich durch nozizeptiven Input erklärt werden. Sie ist subjektiver Natur und kann situationsabhängig durch diverse Faktoren, wie unter anderem affektive Zustände, beeinflusst werden.
Derartige Variabilität der Schmerzwahrnehmung zeigt, dass Schmerzen keine objektive Repräsentation von sensorischen Reizen sind: Schmerzen entstehen also durch Verarbeitungsprozesse in einem komplexen System.
“Pain is whatever the person experiencing it says it is, and it exists wherever the person says it does.“— Margo McCaffery

So ist es möglich, dass eine Verletzung oder strukturelle Abnormität keine oder nur unverhältnismäßig geringe Schmerzen mit sich bringt. Eine geringe Gewebeschädigung kann jedoch auch zu einer relativ unverhältnismäßig hohen Schmerzwahrnehmung führen.
Schmerz ist dabei eine persönliche Erfahrung, die auf biologischen, psychischen und sozialen Komponenten aufbaut, sodass auch Gedanken, Erfahrungen und Ängste die Schmerzwahrnehmung beeinflussen können. Das komplexe Zusammenspiel dieser Komponenten ist dabei als ein lebenslanger Lernprozess des Nervensystems zu verstehen, sodass die Schmerzwahrnehmung vom situativen und historischen Kontext nicht entkoppelt werden kann.
Mit diesem Hintergrund ist es wichtig jeden Schmerz ernst zu nehmen und auch dementsprechend zu behandeln. Die Verurteilung von Sportlerinnen wegen ihres Umganges mit eigenen Schmerzen, durch Trainerinnen, kann auf ein fehlerhaftes oder gänzlich fehlendes Schmerzverständnis hindeuten.
B. Der lebenslange Lernprozess
Das sogenannte Mature Organism Model (MOM) von Louis Gifford kann dabei helfen, die Komplexität der Schmerzwahrnehmung und -beeinflussung zu veranschaulichen und damit greifbarer zu machen:
- Das Nervensystem überprüft jederzeit Gewebe und Umwelt und sendet die aufgenommenen Informationen an das zentrale Nervensystem (ZNS).
- Das ZNS integriert und verarbeitet diese Informationen, die in der affektiven, kognitiven & sensorischen Dimension Einfluss auf den Output des Organismus haben können.
- In diesem Beispiel kommt es zu einer Schmerzwahrnehmung (sensorische Dimension), die zu einer Verhaltensänderung und/oder einer physiologischen Veränderung führt.
- Der Regelkreis schließt sich, indem diese Veränderungen wiederum die fortwährende Input-Aufnahme (Umgebung, Gewebe) beeinflussen und es so zu einem nachhaltigen „Lernprozess“ des gesamten Nervensystems kommt.

C. Können Schmerzen helfen?
Schmerzen sind der stärkste Schutzmechanismus des Körpers. Zu jeder Sekunde interpretiert das Gehirn Massen an Informationen aus dem Körper und der Umwelt, um vor möglichen Gefahren zu warnen und zu schützen.
Die Erfassung der Umwelt und des eigenen Körpers erfolgt über Signale aus den Sinnesorganen, den involvierten Gewebestrukturen und über die Zusammenführung dieser Signale mit den Überzeugungen und Erfahrungen des Individuums.
Dabei wird der Gewebezustand von freien Nervenendigungen, sogenannten Nozizeptoren, erfasst, was die Übermittlung potenziell gefährlicher Reize ermöglicht. Währenddessen erfolgt die Reizaufnahme von Sinnesorganen über spezielle Zelltypen, sogenannten Rezeptoren.
Das zentrale Nervensystem erfüllt hierbei eine Funktion der Interpretation und Einordnung dieser Signale und stellt sich Fragen wie:
„Wie stark sind die Reize? Wo kommen sie her? Hatten wir schon vergleichbare Erlebnisse? Wie schnell kamen die Reize an? Wie sieht meine Umwelt aus? Ist der betroffene Körperabschnitt besonders wichtig und muss ich ihn deshalb umso mehr schützen? Habe ich Angst oder sollte ich sie haben?“
D. Den Sinn von Schmerzen verstehen
Besonders wenn Schmerzen chronifizieren und eine klare Ursache auf der Ebene des Gewebes nicht länger ersichtlich ist, kann es für Sportlerinnen schwierig sein, Schmerzen einzuordnen. In jedem Fall sollte die primäre Gefahrenmeldefunktion der Nozizeptoren überprüft und nach weiteren Ursachen außerhalb der biologischen Domäne gesucht werden.
Gründe hierfür können biologischer, psychischer sowie sozialer Natur sein, sodass all diese Optionen in Betracht gezogen werden sollten. Zudem können sich diese Komponenten auch untereinander beeinflussen, was zu komplexen Kaskaden mit systemischer Auswirkung führen kann.
Ein möglicher nachfolgender Therapieansatz kann die Vermittlung von Sicherheit sein, welche auf der Erkenntnis der Sportlerin beruht, dass Schmerzen nicht zwangsläufig mit Gewebeschäden einhergehen müssen. Eine derartige Aufklärung ist beispielsweise durch eine Schmerzedukation möglich, welche die patientengerechte Erklärung von neurophysiologischen Prozessen der Schmerzwahrnehmung in den Vordergrund stellt. Diese kann dazu beitragen, dass dem Schmerz eine Erklärung gegeben wird, kognitive Prozesse restrukturiert werden und infolgedessen das Schmerzempfinden nachlassen kann. Im nächsten Beitrag beginnen wir mit der Erklärung der notwendigen Hintergründe.
Schmerzen warnen vor potenziellen Gewebeschädigungen. Da die Schmerzwahrnehmung aber subjektiv ist und von diversen Faktoren beeinflusst wird, muss eine tatsächliche Verletzung des Gewebes nicht immer vorliegen. Ein Teil der Therapie von Schmerzpatientinnen sollte sich im Rahmen der Schmerzedukation diesen Mechanismen und Zusammenhänge widmen.
Du möchtest noch tiefer in das Thema eintauchen? Dann haben wir etwas für dich:
Literatur
- Butler, Moseley (2017) “Explain Pain Supercharged”
- Gifford (2014) “Aches and Pains”
- Welter (2015) “Neuroplastizität und Schmerz: Multisensorische Stimulation als Therapieverfahren bei (sub-)akutem Schmerz”
- IASP (2021) “Ressourcen”