Text: Simon Klug | Sparring: Pat Preilowski & Leon Cassian Hammer | Korrektorat: Judith Begiebing | Stimme: Friederike Niermann |
- Widerstand gegen eine Veränderung kann in Form von Sustain Talk geäußert werden und ist eine natürliche und physiologische Schutzreaktion auf eine Bedrohung des Selbstwertes
- Ratschläge und Anweisungen lösen bei der Klientin häufig Sustain Talk aus, da sie sich in ihrer Autonomie angegriffen fühlen kann
- Verschiedene Strategien können Beraterinnen dabei helfen mit Widerstand umzugehen, wobei das aktive Zuhören im Mittelpunkt steht
A. Bei Veränderungen sind Menschen ambivalent
Wenn Veränderung leicht wäre, dann wäre sie schon geschehen. Problemlose Kleinigkeiten können und werden regelmäßig mit eindeutigem Ergebnis evaluiert: entweder ist es wichtig genug, und man macht es oder es ist unwichtig und man lässt es. Wenn keine Ambivalenz besteht, wird auch kein MI benötigt, um eine Veränderung zu unterstützen.
Weil aber viele Veränderungen schwierig sind und wir innerlich hin- und hergerissen sind, können wir professionelle Gespräche über Veränderung führen. Aber auch in diesen Gesprächen können Klientinnen am Status quo festhalten. Wie im Text über Change Talk (5/10) beschrieben, ist hier Fingerspitzengefühl und MI-kongruentes Handeln gefragt, um der Veränderung förderlich zu sein und nicht aus Versehen das Gegenteil zu bewirken.

B. Was es bedeutet widerständig zu sein
In den früheren Auflagen wird jedes Verhalten und jede Äußerung, die von der Veränderung weg und zum Status quo hinführt, Resistance oder Widerstand genannt. In den neueren Auflagen kommt man im englischsprachigen vom Begriff des Widerstands weg, weil in ihm eine Pathologie der Klientin impliziert ist und es nicht ausreichend interpersonelle Faktoren beschreibt, die Klientinnen widerständig werden lässt.
Miller und Rollnick verstehen Widerstand nicht als Persönlichkeitsmerkmal, sondern als etwas, was in der Interaktion zwischen Menschen entsteht. Um diesen Unterschied klarer zu machen, wurden als neue Begriffe „Sustain Talk“ und „Discord Talk“ – als passende Gegenstücke zum erwünschten „Change Talk“ – etabliert. Der Begriff Sustain Talk entspricht eher dem personenzentrierten Weltbild: Widerstand ist nicht intrinsisch pathologisch in der Person angelegt - Jemand ist nicht schwach oder faul. Die Person ist auch nicht dämlich oder willensschwach, wenn sie sich für den Status quo äußert. Aussagen pro Status quo zeigen einfach die „andere“ Seite der Ambivalenz: es gibt auch gute Gründe, die Situation nicht zu ändern und das ist nicht “widerständig”, sondern vernünftig.
Weil wir wichtigen Veränderungen gegenüber ambivalent eingestellt sind, kann sich die Klientin während eines Gesprächs über diese Verhaltensänderung angegriffen fühlen und „widerständig“ werden. Eine Expertin betont die Wichtigkeit und Dringlichkeit einer bestimmten Veränderung und die Klientin fühlt sich als Reaktion darauf schwach oder faul, weil sie es einfach gerade nicht schafft, sich in diesem Bereich zu verändern. Regelmäßig fühlen sich Klientinnen in ihrer eigenen Kongruenz angegriffen, wenn gut gemeinte Ratschläge pro Veränderung geäußert werden: Die Klientin weiß vermutlich selbst, dass es besser wäre, mit dem Rauchen aufzuhören, sich mehr zu bewegen oder gesünder zu essen. Jetzt noch mehr zu betonen, dass das eine kluge und gute Entscheidung wäre, drängt förmlich dazu, die eigene Position zu verteidigen. „Ich mache das mit gutem Grund“ ist die regelmäßige Folge und nicht etwa „Ja. Du hast recht. Rauchen ist ungesund. Ich habe mich die letzten zehn Jahre dumm verhalten und mir durch das Rauchen geschadet.“
Wenn sich eine Klientin etwa zu einer Veränderung gedrängt fühlt, zu der sie noch nicht bereit ist, fühlt sie sich vielleicht machtlos oder reagiert aufgebracht, weil ihre Autonomie nicht gewahrt wurde. Damit ist das Gegenteil von dem erreicht, was MI will: weil die Beraterin zu früh oder zu vehement die Seite der Veränderung ergriffen hat, wird gefördert, dass die Klientin die Seite des Status quo ergreift und wir haben die Klientin als Fürsprecherin des Gleichbleibens (Sustain Talk) gewonnen und, nicht wie intendiert, als Fürsprecherin der Veränderung (Change Talk).
Wer einer schwierigen Veränderung ambivalent gegenübersteht, der äußert sowohl Change Talk und Sustain Talk – es gibt schließlich gute Gründe dafür und auch dagegen. Das ist gesund und gut so, weil wir eben unsere eigene Kohärenz und Identität schützen wollen und so mit aufkommender kognitiver Dissonanz umgehen. Sustain Talk ist also natürlich und sinnvoll und zeigt, dass man sich intensiv mit einem Thema beschäftigt. Beraterinnen sollten also nicht übermäßig alarmiert sein, wenn Klientinnen Sustain Talk äußern. Ein möglicher positiver Reframe ist hier also immer „Du hast Dich schon viel mit dem Thema beschäftigt“.
C. Geschmeidiger Umgang mit Widerstand
Wie geht man denn nun mit Sustain Talk um, wenn man die Veränderung zielführend und personenzentriert unterstützen will?
Das Grundlegendste ist hier, sich an die Kernprämissen von MI zu erinnern. Handeln im Spirit (PACE) und im Einklang mit den Prinzipien (RULE), die Techniken (OARSI) kollaborativ, direkt und personenzentriert anwenden. Wer bei Sustain Talk erst einmal aktiv zuhört, der macht vermutlich nichts falsch. Aktives Zuhören zeigt hier „Ich habe Dich verstanden. Ich habe erkannt, dass Du hier ambivalent bist. Deine Bedenken sind angebracht und vernünftig.“
Ebenfalls eine grundlegende Überlegung ist, dass Sustain Talk zwar erkannt und ernst genommen werden muss, aber nicht gefördert werden soll. MI hat den direktiven Fokus auf der Veränderung. Es wäre also kontraproduktiv, die Gründe für das Gleichbleiben ausführlich zu beleuchten.
Gleichzeitig kann aber auch eine strategische Ebene betrachtet werden. Klientinnen äußern etwa Sustain Talk, wenn sie sich in ihrer Autonomie verletzt fühlen. Also kann es dann sinnvoll sein, Aussagen zu tätigen, die die Autonomie betonen und der Klientin das Gefühl der Kontrolle zurückgeben.
C.1 Strategische Überlegungen im zielführenden Umgang mit Widerstand
- Rolling, Surfing, Dancing
- Zuhören, zurückwerfen, spiegeln
- aktives Zuhören
- Strategie “Weg vom Widerstand”
- “Wo ist Raum für Veränderung?”
- Reframing oder Zustimmung mit Wendung
- Strategie “Autonomie betonen”
- “Du bist die Expertin für Dich und Du löst Deine eigenen Probleme.”
Sustain Talk könnte etwa geäußert werden, wenn ich mit meiner komplexen Reflexion über das Ziel hinausgeschossen bin und sich die Klientin deswegen nicht verstanden oder nicht ernst genommen fühlt. Dann ist es vermutlich sinnvoll sich zu entschuldigen oder zu validieren, dass man die Klientin und ihre Belange sehr wohl ernst nimmt.
C.2 Ein beispielhaftes Szenario
Die Klientin möchte etwas gegen ihre Schmerzen tun, hat gehört, dass Bewegung und Training dabei helfen können und sucht nun Hilfe bei einer Personaltrainerin, die ihr als Intervention Krafttraining anbietet und in erster Instanz die Langhantel als Trainingsgerät vorschlägt.
Äußerung der Klientin: „Ich glaube nicht, dass das etwas für mich ist. Das sieht immer irgendwie seltsam aus. Ich will doch nicht aussehen wie ein Mann“.
Methode | Mögliche Aussage |
---|---|
Einfache Reflexion | "Mit der Langhantel kommst Du Dir einfach dämlich vor." oder "Du willst nicht aussehen wie ein Kerl." |
Überzogene Reflexion | "Das Training mit schwerem Gewicht ist totaler Quatsch für Dich." |
Komplexe Reflexion | "Du kommst Dir beim Training vor wie auf dem Präsentierteller. Das ist nichts für Dich." oder "Du kommst nicht extra nach der Arbeit hier her, um Dich seltsam zu fühlen." |
Reframing | In Richtung einer Herausforderung: "Richtig anstrengendes Krafttraining mit der Langhantel ist neu und eine enorme Herausforderung für Dich." oder in Richtung Gesundheit "Du machst Dir Sorgen, dass das Training mit der Langhantel noch zu viel für Dich ist." |
Autonomie betonen | "Selbstverständlich entscheidest Du, wie Du aktiv wirst." oder "Die Langhantel ist nichts für Dich. Wir suchen gemeinsam etwas anderes." |
Konform gehen | "Krafttraining mit der Langhantel kommt überhaupt nicht in Frage für Dich." |
Entschuldigen | "Ich habe wohl nicht so richtig verstanden, was Dir wichtig ist. Es tut mir leid." |
Dieser sorgsame und geschmeidige Umgang sorgt dafür, dass sich die Klientin trotz ihrer aufreibenden Ambivalenz und ihren aufrechterhaltenen Äußerungen validiert und ernst genommen fühlt. Ihre Autonomie bleibt gewahrt, Alternativen werden aufgezeigt und so wird ihr Sustain Talk kleiner. Dies ist ein guter Zeitpunkt, wieder damit zu beginnen, Change Talk zu fördern.
D. It takes two to resist
Wenn Widerstand nicht in Menschen angelegt ist, sondern in der Interaktion entsteht, kann nicht eine Person alleine „schuld“ daran sein, widerständig zu sein. Miller und Rollnick formulieren dieses Zusammenspiel prägnant als
„it takes two to resist“.
Der Widerstand im anderen wird erst deutlich, wenn das in mir auch Widerstand auslöst.
Ein Beispiel: die Beraterin möchte der Klientin zur Veränderung helfen und steckt größte Mühe und Energie in diesen Prozess. Vielleicht ist der Klientin das zu schnell, zu viel oder die Strategien passen ihr nicht und sie bringt das, um ihre Kongruenz zu schützen, zum Ausdruck. Etwa indem sie sich rechtfertigt („Das ist mir zu schwer.“, „Ich mache schon genug.“, „Wenn Du so viel zu tun hättest wie ich, dann würdest Du das auch nicht noch machen.“). Diese Aussagen beinhalten natürlich Kränkungspotential für die Beraterin: hier kann die Beraterin widerständig werden, weil sie sich in ihrer Kongruenz verletzt fühlt, wenn sie etwa empfindet, dass die Klientin ihre Anstrengungen nicht zu schätzen weiß.
Widerstand ist also eine natürliche Reaktion auf eine (subjektiv wahrgenommene) Bedrohung des Selbstwerts. Ein physiologischer Schutz in der Interaktion und kein pathologisches Merkmal. Dafür sollte man andere (und sich selbst) nicht bestrafen. Ein geflügeltes Wort in der Branche lautet nicht umsonst „Widerstand sollte umarmt werden“.
Beraterinnen sollten damit rechnen, dass Klientinnen im Laufe des Gesprächs Äußerungen gegen eine Verhaltensänderung tätigen. Dieser Sustain Talk spiegelt die Ambivalenz der Klientin wider und gibt Aufschluss darüber, warum die Veränderung schwer fällt. Ungefragte Ratschläge und ein Drängen hin zur Veränderung durch die Beraterin können den Widerstand der Klientin aber erhöhen und sollten deswegen vermieden werden. Wird Sustain Talk geäußert, sollte ein Argumentieren vermieden werden und stattdessen mithilfe von aktivem Zuhören die Autonomie der Klientin betont werden.
Literatur
- Miller & Rollnick. Motivational Interviewing. Helping People Change. 3rd Edition. (2013)
- Miller, Rollnick, Butler. Motivational Interviewing in Health Care: Helping Patients Change Behavior. (2008)
- Rollnick, Fader, Breckon, Moyers. Motivational Interviewing in Sports. Coaching Athletes to Be Their Best. (2020).
Eine primäre Recherche- und Leseempfehlung sind die Bücher von Miller & Rollnick selbst. Hier kann die Methode im Ganzen verzerrungsfrei (theoretisch) erfasst werden und reichhaltige Foot- oder Endnotes bündeln vorhandende Evidenzen.
Weiterführender Inhalt
Einen ersten Blick auf MI kann man im Interview mit Uli Gehring von GK Quest werfen.
Für Physiotherapeutinnen besonders interessant ist ein Interview mit Prof. Dr. Thomas Messner, der sich insbesondere mit MI in der Physiotherapie beschäftigt.
Etwas umfangreicher (1h 6min) ist der PhysioBib Podcast mit Prof. Dr. Thomas Messner, bei dem es auch um MI in der Physiotherapie geht.
Wer Motivational Interviewing als Präsenzkurs oder in der Onlinevariante bei Thomas Messner erleben möchte, wird bei BEST fündig. Angeboten wird zurzeit ein Grundkurs, der sich vor allem an Therapeutinnen und Trainerinnen richtet.
Wer mehr über Motivational Interviewing lesen möchte, dem seien als Erstes die oben genannten Bücher von Miller & Rollnick ans Herz gelegt. Ein erster Blick in die Evidenz ist leicht via der Foot- und Endnotes möglich.
Wer tiefer in die wissenschaftliche Seite und Evidenz hinter der Methode einsteigen will, kann einen Blick in die angeführte Fachliteratur und in freizugängliche Primärquellen (etwa via PubMed oder Google Scholar werfen). Hierbei ist erwähnt, dass MI eine Methode ist und dann in vielen unterschiedlichen Kontexten untersucht wurde und wird, man also konkrete Fragestellungen, bei denen MI angewendet wurde, sucht. Es bietet sich also an, die eigene Fragestellung mit der Zielpopulation und den gewünschten Outcomes selbst zu recherchieren.
Beispielhaft finden sich einige Belege der höheren hierarchischen Ebenen hier:
- Rubak et al (2005). "Motivational interviewing: a systematic review and meta-analysis."
- Frost et al (2018) zur Wirksamkeit von MI als Intervention zur Verhaltensänderung bei Erwachsenen im Kontext von health und social care: ”Effectiveness of Motivational Interviewing on adult behaviour change in health and social care settings: A systematic review of reviews."
- Maslowski et al (2021) zur Wirksamkeit von MI im Kontext des Lernens: ”A systematic review and meta-analysis of motivational interviewing training effectiveness among students-in-training.”
- Armstrong et al (2011) zur Wirksamkeit von MI im Kontext der Gewichtsreduktion: "Motivational interviewing to improve weight loss in overweight and/or obese patients: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials."
- Alperstein & Sharpe (2016) zur Wirksamkeit von MI im Kontext von chronischen Schmerzen: "The Efficacy of Motivational Interviewing in Adults With Chronic Pain: A Meta-Analysis and Systematic Review"
- Bei Vong et al (2011) wird MI als Teil einer Strategie zusätzlich zu physiotherapeutischen Interventionen eingesetzt, um Behandlungsergebnisse zu verbessern und die Motivation zu erhöhen. "Motivational enhancement therapy in addition to physical therapy improves motivational factors and treatment outcomes in people with low back pain: a randomized controlled trial"
MI als eine evidenzbasierte Methode zur Verhaltensänderung kann in vielen Kontexten und Populationen eingesetzt werden. Diese kurze und breite Auflistung soll einladen, konkrete Fragestellungen selbst zu recherchieren.
Für die weiteren Artikel dieser Serie ist anzumerken, dass nun die Methode “von Innen heraus” dargestellt wird, nachdem die grundsätzliche Wirksamkeit etabliert wurde. Es soll ein Hereinschnuppern in Motivational Interviewing ermöglichen und die Anwenderinnen motivieren sich auf die Methode, auf eine personenzentrierte Haltung und ihre Techniken einzulassen. Außerdem können die Texte vielleicht als kleines Nachschlagewerk dienen, die die Anwendung erleichtern.
Interessenkonflikt
Der Autor, Simon Klug, unterrichtet MI an Fach- und Hochschulen und ist als Seminarleiter für MI tätig.